Ukraine will bis zum Ende kämpfen

von Redaktion

VON ALICE HACKMAN

Kiew/Moskau – Mariupol ist längst zum Symbol für die Gnadenlosigkeit des russischen Angriffskriegs geworden. Seit Wochen wird die einst über 400 000 Einwohner zählende Hafenstadt am Asowschen Meer belagert und ist fast vollständig zerstört. Die letzten ukrainischen Truppen, aber nach ukrainischen Angaben auch zahlreiche Zivilisten, haben sich auf dem Gelände des Stahlwerks Asowstal im Südosten der Stadt verschanzt.

Die Menschen hätten sich dort vor dem Beschuss versteckt, sagte der Chef der Streifenpolizei von Mariupol, Michajlo Werschinin, in der Nacht zum Montag dem Lokalfernsehen. „Sie trauen den Russen nicht. Sie sehen, was in der Stadt vor sich geht, und bleiben deswegen auf dem Werksgelände.“ Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden. In dem Stahlwerk, zu dem auch unterirdische Anlagen gehören, sollen sich mehrere tausend ukrainische Verteidiger der Stadt verschanzt haben.

Raketen treffen Lwiw

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba sagte am Sonntag im US-Sender CBS: „Die Reste der ukrainischen Armee und eine große Gruppe von Zivilisten sind von den russischen Streitkräften umzingelt. Sie setzen ihren Kampf fort.“ Die russische Armee habe aber offenbar beschlossen, die strategisch wichtige Stadt „um jeden Preis auszulöschen“. Russland hatte den verbliebenen Kämpfern zuvor mit Vernichtung gedroht und ein Ultimatum zur Aufgabe bis Sonntagmittag gestellt.

Präsident Wolodymyr Selenskyj drohte Moskau mit einem Ende der Waffenstillstandsverhandlungen, falls die letzten Verteidiger Mariupols getötet werden sollten. Er warf den russischen Soldaten zudem vor, den Donbass bei ihrer Offensive „buchstäblich erledigen und zerstören“ zu wollen.

Neue Raketenangriffe gab es auch andernorts. Lwiw wurde am Montag von fünf Raketen getroffen. Nach Angaben von Gouverneur Maxym Kosyzky wurden vier militärische Ziele und eine Autowerkstatt angegriffen. Mindestens sieben Menschen seien getötet, elf weitere verletzt worden, darunter ein Kind. Lwiw liegt weit von der Front entfernt im Westen und wurde seit dem Beginn der Invasion am 24. Februar nur selten bombardiert. Die Stadt nahe der polnischen Grenze ist Zufluchtsort und Durchgangsstation für Flüchtlinge aus dem ganzen Land.

Bei Angriffen in der nahe der russischen Grenze gelegenen Millionenstadt Charkiw sind nach Angaben von Rettungskräften am Sonntag mindestens fünf Menschen getötet worden. Im nahe Kiew gelegenen Browary wurde nach russischen Angaben eine Munitionsfabrik zerstört. Die russischen Streitkräfte vermeldeten gestern, man habe in der Nacht zu Montag mehr als 100 Ziele beschossen, an denen ukrainische Militärtechnik und Truppen konzentriert seien.

Regierungschef Denys Schmyhal schloss eine Kapitulation der Ukraine erneut aus. „Wenn die Russen keine Verhandlungen wollen, werden wir bis zum Ende kämpfen“, sagte er im US-Sender ABC. Selenskyj rief in einem CNN-Interview US-Präsident Joe Biden und den französischen Präsidenten Emmanuel Macron dazu auf, sich vor Ort ein Bild von der Lage zu machen. Macron lehnte es bislang ab, von „Völkermord“ zu sprechen. Derweil ehrte Russlands Präsident Wladimir Putin die Soldaten, die im ukrainischen Butscha im Einsatz waren. Die Bilder nach dem Abzug der russischen Truppen sorgten weltweit für Entsetzen.

Mit der Großoffensive im Osten der Ukraine sollen russische Truppen nach Angaben aus Kiew nun begonnen haben. Selenskyj sagte am Montagabend, die Regierung könne „nun bestätigen, dass die russischen Truppen den Kampf um den Donbass begonnen haben“. Behörden rufen die Bewohner seit Tagen zur Flucht auf. Wegen anhaltender Angriffe seien aber keine Evakuierungen möglich. „Die russischen Besatzer blockieren und bombardieren immer wieder humanitäre Routen“, erklärte Vize-Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschu.

Sorge vor Chemiewaffen

Der heftige Kampf um Mariupol hat nach Einschätzung britischer Geheimdienste die russischen Streitkräfte auf eine harte Probe gestellt und den Vormarsch in anderen Gebieten verlangsamt. Zuletzt wurden immer wieder Befürchtungen laut, Moskau plane deshalb den Einsatz chemischer Waffen. Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko sagte gestern Abend bei RTL und ntv: „Chemische Waffen oder Atomwaffen (…), wir rechnen mit allem. Alles ist möglich.“ Der Sprecher der prorussischen Streitkräfte in Donezk, Eduard Bassurin, sagte dem russischen Staatsfernsehen schon vor einer Woche, ein Sturmangriff auf das Fabrikgelände sei taktisch falsch. Er denke, man sollte sich an die chemischen Truppen wenden.

Das russische Staatsfernsehen hat gestern ein Video veröffentlicht, in dem zwei angeblich gefangene Briten um ihren Austausch gegen den prorussischen ukrainischen Oligarchen Viktor Medwedtschuk bitten. Dem Staatsfernsehen zufolge handelt es sich um Aiden Aslin und Shaun Pinner, die in Mariupol festgenommen worden seien. In dem Video bitten die ausgezehrt wirkenden Männer Premierminister Boris Johnson darum, ihre Freilassung zu verhandeln. Fast zeitgleich veröffentlichte der ukrainische Inlandsgeheimdienst ein Video des festgenommenen Medwedtschuk, in dem dieser um seinen Austausch gegen die verbliebenen ukrainischen Verteidiger und Bewohner Mariupols bittet.

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