München/Shanghai – Seit Anfang April ist Shanghai abgeriegelt. Was dort vorgeht, dringt vor allem in Form von Bildern und kleinen Videos im Internet an die Außenwelt: die ausgestorbenen Straßen, die Zustände in den Isolierzentren und die Handgemenge zwischen aufgebrachten Bürgern und den in weiße Schutzanzüge gehüllten Gesundheitsmitarbeitern, vom Volksmund „Große Weiße“ genannt.
Zuletzt zirkulierte ein Video, wie Große Weiße widerspenstige Bürger aus ihrer Wohnanlage im Osten der Stadt zerrten: Ihre Apartments waren kurzerhand zu Isolierstationen für Covid-Infizierte umdeklariert worden.
Solche Bilder offener Unzufriedenheit haben in China Seltenheitswert. Die Zensur tilgt jede Kritik schnellstmöglich aus den sozialen Netzwerken. Doch der Schock über die Zustände in Shanghai ließ die Zahl der Videos explodieren, sodass doch vieles zumindest vorübergehend sichtbar war.
Shanghai gilt als die am besten gemanagte Stadt Chinas. Die Metropole ist das wirtschaftliche Herz des Landes. Dass ausgerechnet dort im Lockdown vieles nicht so klappt, hatte niemand erwartet – am allerwenigsten die stolzen Shanghaier selbst. Doch nun sitzen die meisten seit mehr als zwei Wochen zu Hause fest, abhängig von Lebensmittel- und Medikamentenlieferungen, die nicht überall reibungslos funktionieren. Besonders Obst und Gemüse sind Mangelware. Wer trotz dauernd überlasteter Server etwas auf Online-Shops ergattert, zahlt horrende Preise. Hunger war in Chinas reichster Stadt seit Jahrzehnten kein Thema. Doch derzeit dreht sich für viele alles um die Essensbeschaffung.
Und über allen hängt das Damoklesschwert eines positiven Tests. Dann heißt es: Umzug in eines der mehr als 100 Quarantänezentren. Rund 160 000 Corona-Betten gibt es in Shanghai, manche in riesigen Messehallen. Die Beschwerden kreisen um drei Dinge: schmutzige Toiletten, keine warme Dusche – und nie geht das Licht aus. Hinzu kommt Wut über die Trennung positiv getesteter Kinder von ihren Eltern. Einige Isolierstationen haben daher inzwischen Familienecken.
Vorbereitet auf einen wochenlangen Lockdown war kaum jemand. Die Stadtväter hatten verzweifelt versucht, diesen zu verhindern: Mit 48-Stunden-Abriegelungen einzelner Wohngebiete und dann mit dem Zwei-Phasen-Lockdown von Ost- und West-Shanghai – für je vier Tage. Die Menschen glaubten daran, kaum jemand legte Vorräte an. Doch der Lockdown geht immer noch weiter.
„Unter meinen Freunden und meiner Familie hat fast jeder eine persönliche Geschichte über Lockdown-Chaos und Elend zu erzählen“, berichtet der CNN-Journalist Steven Jiang, dessen 72-jähriger Vater und andere Verwandte in Shanghai leben. Sie schleichen für Tauschgeschäfte mit Nachbarn nachts in den Hof oder landen auf Isolierstationen mit undichtem Dach und überlaufenden Toiletten. Einer berichtete von dem lauten Weinen einer älteren Nachbarin, deren Mann gestorben war – und von dem die eigenen Kinder wegen des Lockdowns nicht Abschied nehmen konnten. Jiangs Vater hat noch ein wenig Reis und viel Kaffee, aber sonst kaum noch Essbares im Haus.
Die Zahl der Neuinfektionen in Shanghai liegt seit Wochen stabil bei über 20 000 am Tag. Experten und Einwohner rechnen mit einer Fortsetzung des Lockdowns mindestens bis Mitte Mai. Und das, obwohl laut offiziellen Daten in Shanghai bislang erst 25 Menschen gestorben sind – zumeist ungeimpfte Ältere. Auch in China scheint Omikron mit leichteren Verläufen zu dominieren.
Das verändert die Sicht vieler vor allem jüngerer Chinesen auf das Virus – und auch auf die strikte Null-Covid-Politik. Auf jeden noch so kleinen Ausbruch antwortet China mit Abriegelungen und Massentests. In mehr als 70 Städten Chinas gibt es bereits Restriktionen; mehrere sind wie Shanghai komplett im Lockdown: Changchun, Jilin, Xuzhou, Kunshan. Mindestens 150 Millionen Menschen sollen betroffen sein.
Niemand in China möchte ein Chaos wie in Hongkong erleben, wo die Behörden von der Wucht der hochansteckenden Variante überrannt wurden und viele ungeimpfte Ältere starben. Auch in China stemmen sich viele Senioren in erstaunlicher Weise gegen eine Impfung: Die Impfquote der über 80-Jährigen liegt bei nur 51 Prozent. Auch weiß niemand, wie wirksam die lokalen Vakzine vor Omikron schützen. Ausländische Impfstoffe wie der von Biontech sind nicht zugelassen, ein in China entwickelter mRNA-Impfstoff ist erst in Arbeit. China will es partout allein schaffen – auch um der Welt zu beweisen, dass sein sozialistisches System dem Westen überlegen ist. Eine völlige Öffnung kommt auch deswegen vorerst nicht infrage.
Shanghais Behörden versuchten erstmals vergangene Woche, den Lockdown schrittweise zu lockern: Bewohner von Quartieren, die 14 Tage keine Neuinfektionen verzeichneten, durften in ihrem Viertel spazieren gehen. Schon am selben Abend aber kassierte man diese Lockerung wieder. Einer, der an diesem seltsamen Tag draußen unterwegs war, ist der Deutsche Andreas Tank, der in Shanghai die Beratungsfirma China Competence betreibt. Er sah „leere Straßen, mit Kettenschlössern gesicherte Tore, mit Holzwänden versperrte Eingänge, erschöpfte Freiwillige in Schutzanzügen, während das Thermometer 35 Grad anzeigte, allerlei Zelte, in denen Wachen und Freiwillige nachts schlafen, ausgestattet mit Schlafsäcken und plattgedrückten Kartons“.
Nur sehr wenige Bäckereien, Läden oder Restaurants hatten an dem Tag geöffnet. „Aber als wir fragten, ob wir etwas kaufen könnten, antworteten sie, wir müssten online mit allen anderen kämpfen: nur Lieferung.“ Tank hat sich inzwischen an den Lockdown gewöhnt und darf immerhin auf den begrünten Hof seines Gebäudes mit gut 250 Bewohnern. „Die Nachbarn organisieren gemeinsam Einkäufe, die durch das Gebäudemanagement auf das Gelände gebracht und dann mit Unterstützung freiwilliger Bewohner verteilt werden“, erzählt Tank. Die Händler verlangten Mindestbestellungen: Kommen etwa nicht genug benötigte Eier zusammen, muss man es später noch mal versuchen. Die Abstimmung kostet Zeit, aber sie lohnt sich: Hunger droht dem Deutschen nicht.
Die Regierung lässt unterdessen nicht locker. Gesundheitsminister Ma Xiaowei versprach erst am Montag „die strengsten, gründlichsten, entschlossensten und entschiedensten“ Maßnahmen. Ma forderte die Städte auf, provisorische Krankenhäuser zu verbessern und den Bau von Unterkünften für besonders gefährdete Personen zu fördern – damit im Falle eines Ausbruchs schnell Ressourcen verfügbar sind. „Der Mangel an Isolationseinrichtungen ist das größte Problem“, so Ma. Das sehen immer weniger Chinesen so.
In Shanghai versammelten sich kürzlich die Bewohner mehrerer Wohntürme auf ihren Balkonen, um ihre Verzweiflung in den Nachthimmel zu schreien. Anderswo fliegen Regierungsdrohnen über die Apartmentblöcke und rufen Anwohner auf, „das Verlangen ihrer Seele nach Freiheit“ zu kontrollieren. Die Kommunistische Partei rief die Bürger auf, ihr zu vertrauen. Doch sie selbst vertraut den eigenen Bürgern nicht.