München – Emotionen in der Politik sind wie das Zünglein an der Waage: Schnell werden Politiker als zu emotional oder aber als gänzlich emotionslos gesehen. In der Liste der deutschen Kanzler kam es in 73 Jahren Bundesrepublik zu einigen emotional aufgeladenen Momenten.
Kanzler Willy Brandt (SPD) ist mit seiner wohl emotionalsten Geste – dem Kniefall von Warschau – in die Geschichte eingegangen. Nachdem das deutsch-polnische Verhältnis nach dem Zweiten Weltkrieg stets angespannt war, reiste Brandt am 7. Dezember 1970 als erster deutscher Regierungschef nach Polen. Vor einem Mahnmal zum Gedenken an den jüdischen Ghetto-Aufstand von 1943 fällt der deutsche Kanzler unvermittelt auf die Knie. Als Zeichen seiner Betroffenheit kniet er eine halbe Minute lang auf nassem Boden. Laut Reportern kämpfte Brandt damals mit aller Kraft gegen seine Tränen an. „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt“, schrieb Brandt 1989.
Weniger andächtig handelte Helmut Kohl (CDU) bei einem Besuch am 10. Mai 1991 in Halle. Dorthin war er als erster Bundeskanzler des vereinten Deutschlands gereist – und wurde mit Pfiffen und Buhrufen empfangen. Als einer der Demonstranten, der stellvertretende Juso-Vorsitzende in Halle, Matthias Schipke, Kohl mit Eiern bewarf, kam es zum Eklat.
Kohl suchte keinen Schutz, sondern riss sich mehrfach von seinen Personenschützern los und stürmte auf den Eierwerfer zu. Bei einer Pressekonferenz sagte Kohl später: „Da ich nicht die Absicht habe, wenn jemand vor mir steht und mich bewirft, davonzulaufen, bin ich eben auf die zu und da stand ein Gitter dazwischen und das war von Nutzen.“
Auch Kohls Nachfolger Gerhard Schröder (SPD) überkamen einst die Emotionen. 2005 wurde er nach sieben Jahren als Kanzler abgewählt, die SPD erreichte 34,2 Prozent, die Union 35,2 Prozent. Doch dieses Wahlergebnis schien Schröder in der „Elefantenrunde“ von ARD und ZDF nicht zu realisieren. Er polterte gegen die Moderatoren und CDU-Herausforderin Angela Merkel. „Ihr intellektuelles Problem in allen Ehren“, konterte Schröder auf die Frage, wie er ohne Mehrheit eine Regierung bilden wolle. Und mit Blick auf eine Kanzlerin Merkel sagte er: „Wir müssen die Kirche doch mal im Dorf lassen.“ Die Deutschen hätten in der Kandidatenfrage eindeutig votiert. ZDF-Moderator Nikolaus Brender meinte später, Schröder seien damals die Endorphine durchgegangen. Das Ende ist bekannt: Merkel wurde Kanzlerin und Schröder bei einem Großen Zapfenstreich verabschiedet. Dabei standen ihm (ebenso wie seinem Vorgänger Kohl) die Tränen in den Augen.
Merkel galt 16 Jahre lang als gefasst. Emotional wurde sie nur selten. Doch beim WM-Finale 2014 in Brasilien gegen Argentinien, das Mario Götze in der 113. Minute mit einem Zaubertor zum 1:0 entschied, sorgte die Kanzlerin für ungewohnte Bilder. Lautstark und gestenreich fieberte sie mit der Nationalelf mit. Auch der damalige Bundespräsident Joachim Gauck (saß neben Merkel) war in Südkurvenlaune und schnellte im Strecksprung mit geballten Fäusten vom Sitz.
Als einer ihrer emotionalsten Momente gilt auch Merkels Ansprache im Dezember 2020, als sie sich für härtere Maßnahmen in der Corona-Pandemie aussprach. Mit geballten Fäusten und flehender Stimme appellierte sie an den Bundestag: „Wenn wir jetzt zu viele Kontakte vor Weihnachten haben und anschließend es das letzte Weihnachten mit den Großeltern war, dann werden wir etwas versäumt haben.“
LEONIE HUDELMAIER