München/Farchant – So genau beschreiben kann er gar nicht, was da gerade passiert ist. „Alles ging ganz schnell“, sagt der ältere Mann, der eben noch als Passagier in der Regionalbahn von Garmisch-Partenkirchen in Richtung München saß. „Es hat plötzlich stark gerumpelt und dann hat es schon gestaubt“, sagt er. Und dann liegen Teile des Zuges in der Böschung neben den Gleisen. Soldaten der Bundeswehr schlagen die Fensterscheiben zu seinem Abteil ein und ziehen ihn und andere Fahrgäste ins Freie. Der Mann bleibt unverletzt. Doch nicht alle in dem mit rund 140 Personen besetzten Zug, darunter viele Schulkinder, hatten so viel Glück.
Zu Beginn der Pfingstferien wird der Landkreis im Süden von einem schweren Zugunglück erschüttert. Im Garmisch-Partenkirchner Ortsteil Burgrain, kurz vor der 4000-Einwohner-Gemeinde Farchant, entgleist am Freitagmittag ein Regionalzug. Mindestens vier Menschen kommen ums Leben, etwa 30 Personen werden ersten Schätzungen zufolge verletzt, 15 von ihnen müssen mit teils schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht werden. Zudem gibt es am Abend noch zwölf Vermisste, die sich laut Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) aber auch in den Kliniken befinden könnten. Einige seien so schwer verletzt, dass die Identität der Patienten noch nicht habe geklärt werden können, sagt er im BR. All das auf den Tag genau 24 Jahre nach dem Zugunglück von Eschede, bei dem 101 Menschen ums Leben kamen. Warum die Waggons aus den Gleisen sprangen, war am Freitagabend noch völlig unklar.
Als in den Einsatzzentralen um 12.18 Uhr die ersten Meldungen aufschlagen, beginnt der Großeinsatz – unter schwersten Bedingungen. Zwar kommen die Retter über die Bundesstraße schnell zur Unfallstelle. Aber das Gelände selbst ist unwegsam, zum Teil müssen die Feuerwehrkräfte Bäume umschneiden und Leitplanken entfernen, sich über einen steilen, zugewachsenen Hang zu den Waggons vorarbeiten. „Das ist brutal“, sagt einer der Feuerwehrmänner. Nicht nur körperlich, auch mental. Dass viele Schüler im Zug waren, belastet die Helfer zusätzlich. „Es ist furchtbar, völlig dramatisch“, sagt ein Polizeisprecher.
Am Nachmittag trifft Innenminister Herrmann am Unfallort ein. Er spricht von einem schrecklichen Unglück, lobt die rund 500 Einsatzkräfte für ihre vorbildliche Arbeit. Innerhalb einer Stunde seien alle Überlebenden aus dem Zug gerettet worden. Herrmann berichtet von 15 Bundeswehrsoldaten, die zufällig im Zug waren. „Sie haben vom ersten Moment an Notrufe abgesetzt und kräftig mitgeholfen, Personen aus dem Zug zu bergen.“
Als Herrmann spricht, liegen drei Tote noch unter den Waggons hinter ihm. Offenbar wurden einige Fahrgäste von der Wucht des Aufpralls durch die Fenster gerissen. Er könne zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausschließen, ob noch mehr Leichen unter dem Zugwrack gefunden werden, sagte Herrmann. Dazu müssten die Waggons erst angehoben werden. Eine weitere Person stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus an ihren schweren Verletzungen. Die Polizei setze nun alles daran, gemeinsam mit Bahnexperten die Ursache für das Unglück herauszufinden. Bayerns Verkehrsminister Christian Bernreiter (CSU), ebenfalls angereist, sagt, es sei kein zweiter Zug und auch kein anderes Fahrzeug beteiligt gewesen.
Auf der Strecke ist Tempo 100 erlaubt, es gibt keine Weichen. Verunglückt ist der einzige auf der Strecke eingesetzte Doppelstockzug, der von Garmisch-Partenkirchen Richtung Farchant unterwegs war, vorne einen Steuerwagen hat und hinten von einer Elektrolok geschoben wurde. Auf den Luftbildern ist zu sehen, dass der Zug aus fünf Waggons bestand. Der zweite und dritte Waggon kippten um, der vierte drehte sich um 90 Grad quer zum Gleis. Der erste und der letzte Waggon blieben weitgehend im Gleis. Über die Unglücksursache kann man bislang nur spekulieren: Gleisbruch, Achsbruch an einem Waggon, zu hohe Geschwindigkeit – alles denkbar. Die staatliche Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU) hat, wie in solchen Fällen üblich, die Untersuchungen aufgenommen.
Auch der Garmisch-Partenkirchener Landrat Anton Speer (FW) tritt am Freitag vor die Presse. „Der Schock sitzt tief“, sagt er bei strömendem Regen. Während er spricht und den Rettern dankt, werden im Garmischer Klinikum gerade drei Notoperationen durchgeführt. Die Helfer geben alles, damit die Zahl der Opfer an diesem schwarzen Tag nicht noch weiter steigt.