Deggendorf – Maximilian Eiglmeier ist heute ein ganz normaler Bub. Gerade hat der Zweieinhalbjährige Mittagsschlaf gemacht und tobt putzmunter über den Holzboden im Haus seiner Eltern in Schaufling bei Deggendorf. Bauklötzchen, Autos und vor allem Bagger – damit spielt der quirlige Bub am liebsten. Zwischendurch braucht es aber auch mal eine Kuscheleinheit. Mama Manuela sitzt am Küchentisch und hievt Maximilian auf ihren Schoß. Vor den beiden liegt ein schwarzes Buch. Für die 32-Jährige ist es das wichtigste Buch in ihrem Leben. Sie beginnt zu blättern und sagt zu ihrem Sohn: „Heute erzählen wir deine Herzerl-Gschicht.“
Manuela Eiglmeier hat nie Tagebuch geschrieben. Am 3. April 2020 fängt sie damit an. Die junge Mutter weiß nicht, wohin mit ihren Gedanken, Sorgen und all den Informationen, die in den letzten drei Tagen auf sie eingeprasselt sind. „Ihr Sohn ist schwer herzkrank und hat ein Lungenödem“, hat ein Arzt ihr und ihrem Mann Josef eröffnet. Ein Albtraum beginnt.
„Unser Maxe hat sich nach seiner Geburt super entwickelt“, erzählt die Mutter. „Er war ein ganz normales Baby.“ Als Maxe sechs Monate alt ist, fällt ihr aber auf, dass er kaum noch zunimmt und beim Stillen schwitzt. Manuela Eiglmeier ist beunruhigt. Als gelernte Krankenschwester weiß sie, dass es herzkranken Kindern oft so geht. Der Kinderarzt kann aber nichts finden und nimmt ihre Besorgnis deshalb nicht so ernst. Heute sagt Eiglmeier: „Was Maxe wirklich fehlt, konnte der Arzt damals schwer ahnen.“ Das Bland-White-Garland-Syndrom ist so selten – gut möglich, dass dem Arzt in seiner Laufbahn zuvor noch kein einziger Fall begegnet ist.
Das Bland-White-Garland-Syndrom ist eine angeborene Anomalie, die nur bei einer von 300 000 Lebendgeburten vorkommt. Bis zu 80 Prozent der betroffenen Kinder sterben im ersten Lebensjahr, eben weil der Fehler oft unbemerkt bleibt. „Beim plötzlichen Kindstod finden meist keine Obduktionen statt, aber ALCAPA könnte ein Grund sein“, sagt Eiglmeier.
ALCAPA bedeutet „Fehlabgang der linken Koronararterien aus der Lungenarterie“ und ist die Abkürzung für den eher sperrigen medizinischen Namen. 91 Tage dauert Maximilians Kampf, 91 Tage hören die Eltern den Namen der Krankheit immer und immer wieder. Er wird zum Synonym für den möglichen Tod ihres Babys. „Maxes linkes Herzkranzgefäß ist falsch an sein Herz angebunden“, liest Eiglmeier aus dem Tagebuch vor. „Seit dem ersten Atemzug wird sein Herz nur mit sauerstoffarmem Blut versorgt. Jeder Tag belastet das kleine Organ stark.“ Das Tagebuch ist für die Mutter bis heute Vertrauter, Therapeut, Fotoalbum und medizinische Akte in einem.
Von Deggendorf kommt Maximilian mitten im ersten Lockdown ins Klinikum Regensburg und dann per Hubschrauber nach München ins Klinikum Großhadern. Er muss dringend operiert werden. Neun Stunden dauert die OP. Zu lang für das schwache Herz. Maximilian muss reanimiert und an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen werden. „Die nächsten Tage waren die Hölle“, erzählt Eiglmeier. „Mein Mann und ich konnten unmöglich jeden Tag von Deggendorf nach München pendeln – in dieser Situation braucht man wirklich alle Kräfte für sein Kind.“
Die Eltern finden erneut Hilfe, denn auf dem Klinikgelände liegt eine ganz besondere Einrichtung: ein „Ronald McDonald Haus“. Dort können Eltern schwer kranker Kinder vorübergehend wohnen. Ein Hotel ist für die Eiglmeiers finanziell nicht machbar, die Klinik vermittelt einen Platz in dem Haus, das gerade 25 Jahre alt wurde (siehe Artikel unten). „Uns hat das etwas Normalität verschafft. Schlafen, Duschen und Kochen ist ja nur das eine. Aber im Ronald McDonald Haus konnten wird uns auch mit anderen Eltern kranker Kinder austauschen – das gibt Kraft“, sagt Manuela. Und: „Der Maxe hat gemerkt, dass wir in der Nähe sind und nicht 168 Kilometer weit weg.“
Nach der ersten Operation hat Maximilian noch einen langen Leidensweg vor sich: Nierenversagen, Dialyse, ein künstlicher Darmausgang. „Nach dem Nierenversagen musste Maxe in der Nacht noch einmal reanimiert werden. Zwei Minuten haben die Ärzte gebraucht, um ihn zurückzuholen“, sagt Manuela und wischt sich eine Träne von der Wange. „Muttermilch bekam Maxe danach nur über eine Magensonde.“ Und er wurde mit Medikamenten sediert. „Ein Baby würde sich ja sonst die ganze Zeit bewegen.“ Überall Monitore und Schläuche, der kleine Körper aufgedunsen und wund vom Liegen. Beim Umlagern rauscht der Blutdruck in den Keller. Herz, Darm, Nieren, Lunge könnten jeden Moment versagen. „Ein Erwachsener würde so etwas nie überleben – das schaffen wenn, nur Kinder“, versucht ein Anästhesist den Eltern Mut zuzusprechen. Der kleine Maxe kämpft – und überlebt. „Seine Organe erholen sich“, liest Manuela Eiglmeier aus ihrem Tagebuch vor.
Nach 91 Tagen wird der kleine Kämpfer endlich entlassen. Auch für die Eltern geht es wieder ins heimische Schaufling. Das Ronald McDonald Haus besuchen sie bis heute. „Dort haben wir Freunde fürs Leben kennengelernt und sind bei Spendenaktionen dabei.“
Was Maximilian erlebt hat, merkt man ihm heute nicht mehr an. Radlfahren mit der Mama, im Garten schaukeln und mit dem Papa Traktorfahren – der Bub lebt sein Kinderleben. „Er ist wissbegierig und hat Pfeffer im Po“, sagt die Mama. „Ich bin froh, dass ich mich nicht mein ganzes Leben lang fragen muss: Wie alt wäre unser Maxe heute? Wir müssen noch alle sechs Monate ins Krankenhaus zum EKG, Herzultraschall und Blutabnehmen – aber seine Werte sind stabil.“
Das Tagebuch, das Freud und Leid zugleich festhält, will Manuela Eiglmeier ihrem Sohn zum 18. Geburtstag schenken. „Vielleicht schon früher, wenn es mit dem Fortgehen losgeht“, sagt sie und lacht. „Er soll wissen, wie wichtig es ist, gesund zu sein – und dass Familie alles ist.“ Im Juni bekommt Maxe ein Geschwisterchen. Da wird sein kleines Kämpferherz höher schlagen.