Der Kanzler im Kriegsgebiet

von Redaktion

VON MICHAEL FISCHER, ANDREAS STEIN, CHRISTIAN DEUTSCHLÄNDER

Kiew/München – Was musste Bundeskanzler Olaf Scholz sich anhören, weil er nicht nach Kiew reisen wollte. Mangelnde Solidarität wurde ihm vorgeworfen, fehlende Handlungsbereitschaft, Trotzigkeit. Botschafter Andrij Melnyk nannte ihn sogar eine „beleidigte Leberwurst“. Am Donnerstagnachmittag steht er im Park des prachtvollen Marienpalastes mitten in der ukrainischen Hauptstadt neben Präsident Wolodomyr Selenskyj – und auf einmal scheint alles wieder gut zu sein. Oder doch nicht?

„Ich bin sehr zufrieden mit unserem Treffen, das sage ich offen“, sagt Selenskyj auf der Pressekonferenz mit insgesamt vier Staats- und Regierungschefs der EU, die sich auf den beschwerlichen Weg nach Kiew gemacht haben. Scholz steht ganz am Rand, Selenskyj in der Mitte, zwischen den beiden Emmanuel Macron. Die Worte Selenskyjs wirken wie eine Umarmung über den französischen Präsidenten hinweg. „Wir haben das Signal der Vereinigung erhalten. (…) Ja, ich bin überzeugt, dass das ganze deutsche Volk die Ukraine unterstützt.“

Soviel Lob auf einmal von ukrainischer Seite gab es seit Kriegsbeginn nicht. Scholz sagte stets, er wolle nur in die Ukraine reisen, wenn es was Konkretes zu regeln gibt. „Ich werde nicht mich einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin was machen.“ Dieser Satz zählt zu den meistzitierten seiner Amtszeit.

Jetzt ist er – fast vier Monate nach Kriegsbeginn – tatsächlich nach Kiew gereist. Aber hat er mehr geliefert als nur Fotomotive? Bilder vor zerbombten Häusern, zerschossenen Autos, Händeschütteln mit Bürgermeister Vitali Klitschko und dessen Bruder Wladimir, der ihn eher flapsig mit „Moin Moin in Kiew“ begrüßt? War’s das?

Zumindest so halb. Auf der Pressekonferenz verspricht er der Ukraine, sich dafür einzusetzen, dass sie Kandidat für eine Mitgliedschaft der Europäischen Union wird. Das ist eine der dringlichsten Forderungen des Landes, das sich seit vier Monaten tapfer gegen die russischen Angreifer zur Wehr setzt. „Meine Kollegen und ich sind heute hier nach Kiew gekommen mit einer klaren Botschaft: Die Ukraine gehört zur europäischen Familie.“

Auch Macron, der italienische Regierungschef Mario Draghi und der rumänische Präsident Klaus Iohannis, die zusammen mit Scholz Kiew besuchen, sind dafür. Vor allem bei Macron konnte man nicht unbedingt davon ausgehen. Nächste Woche soll der EU-Gipfel entscheiden. Das wird noch ein Stück Arbeit, weil Einstimmigkeit erforderlich ist, aber ein erster Schritt ist gemacht.

Beim zweiten wichtigen Thema für Selenskyjs Ukraine liefert Scholz nichts Neues: keine neuen Zusagen für schwere Waffen, schon gar nicht für moderne Panzer, die sich die Ukraine erhofft. Doch selbst das schien Selenskyj an diesem Tag nicht zu stören. „Die Lieferungen laufen und darunter ist das, was wir erwarten“, sagt er.

Für Scholz dürfte sich die beschwerliche Reise also gelohnt haben. 16 Stunden dauert schon die Anreise nach Kiew. Weil der Luftraum gesperrt ist, fliegt er am Donnerstagabend nur bis Rzeszow in Südpolen, um dann in Przemysl an der Grenze am späten Abend den Zug zu besteigen, der Rückweg läuft ab 20 Uhr ähnlich. Der Begleittross ist klein, jeder packt an. Jörg Kukies und Jens Plötner, die Berater des Kanzlers für Wirtschaft und Außenpolitik, müssen die Kisten mit Verpflegung an Bord hieven: Schokoriegel, Gummibärchen und Spätburgunder aus Baden – was man eben so braucht, um eine knapp zehnstündige Zugfahrt in einem eher spartanischen Schlafabteil (nur der Konferenzbereich des Zuges ist edler) zu überstehen. Es ist die gefährlichste und spektakulärste Reise des Kanzlers in seiner Karriere. Und am Ende wohl auch die bedeutendste.

Sie stellt alle bisherigen Reisen von Spitzenpolitikern nach Kiew in den Schatten: Die Chefs der drei bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Länder der EU machen sich zusammen auf den Weg durch das Kriegsgebiet. Italien, Frankreich und Deutschland sind Mitglied der G7, der Gruppe demokratischer Wirtschaftsmächte, deren Vorsitz Scholz derzeit führt. Frankreich hat die EU-Ratspräsidentschaft. In Kiew stößt Iohannis dazu – als Vertreter der Osteuropäer, die sich besonders von Russland bedroht fühlen.

Mit Irpin schaut sich die Vierergruppe einen der Vororte an, die zu Kriegsbeginn von den Russen eingenommen wurden. Ähnlich wie im benachbarten Butscha, durch das Scholz auf dem Weg fährt, wurden in Irpin nach dem Rückzug der russischen Truppen Ende März knapp 300 teils hingerichtete Zivilisten gefunden. Der ukrainische Regional-Minister Oleksij Tschernyschow führt Scholz und die anderen an der verkohlten Ruine eines Wohnhauses vorbei.

„Das sagt sehr viel aus über die Brutalität des russischen Angriffskriegs, der einfach auf Zerstörung und Eroberung aus ist“, sagte Scholz mit versteinerter Miene bei seinem Rundgang. Die Zerstörungen in Irpin seien ein „ganz wichtiges Mahnmal“ dafür, dass etwas zu tun sei. „Es ist furchtbar, die Zerstörung zu sehen.“ Scholz hält an einem Kleinwagen, der von Kugeln durchsiebt ist, hier wurden eine Mutter und ihre zwei Kinder ermordet. Zivilisten, natürlich. Scholz legt seine Hand auf das Auto. Macron umarmt am Ende der Führung Tschernyschow spontan.

Solche Worte und Gesten tun den Ukrainern gut. Dazu gehört auch Scholz’ Einladung an Selenskyj zum G7-Gipfel in einer guten Woche nach Elmau, zumindest digital zugeschaltet. Und: Scholz’ Schlusswort nach seinem Treffen mit dem Präsidenten, fast pathetisch: „Die Ukraine soll leben“, sagt er in die Kameras. „Slava Ukraini“ ruft er, ungefähr zu übersetzen als „Ruhm der Ukraine“.

Das klingt leidenschaftlich. Doch die Gastgeber wollen eigentlich noch mehr von Scholz und Macron: Taten. Ob Scholz geliefert hat, wird in den kommenden Tagen sicher auch innenpolitisch heiß diskutiert werden. Immerhin eines hat er bei dieser Reise ganz gewiss erreicht. Jetzt wird niemand mehr nervige Fragen nach dem Termin einer Reise nach Kiew stellen.

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