Athen/Ankara – Das „Ali“ kennt auf der Insel Kos jeder. Seit dreieinhalb Jahrzehnten gibt es die Taverne der Familie Hatzisouleiman. Im „Ali“ bekommt man traditionelle Köstlichkeiten der griechischen, aber vor allem der türkischen Küche. Es ist ein Familienbetrieb, in dem alle mithelfen. Die Hatzisouleimans leben seit dem 16. Jahrhundert auf Kos, wie sie stolz betonen. Sie gehören zur muslimischen Minderheit in Griechenland.
Auf Kos leben etwa 2000 muslimische Griechen, auf der Nachbarinsel Rhodos rund 3500. Das Gros der muslimischen Griechen mit rund 100 000 Personen lebt auf dem Festland, in Westthrakien im Nordosten Griechenlands, unweit der türkischen Grenze. Alle sind griechische Staatsbürger – und so automatisch EU-Bürger.
Fragt man Ali Hatzisouleiman, ob er sich als Muslim unterdrückt, bedrängt oder diskriminiert fühlt, schüttelt er den Kopf. „Blödsinn. Wir sind hier, wir bleiben“, sagt er. Kein Wunder. Die Geschäfte im Ferienparadies Kos laufen gut. So gut, dass die Familie auch die Strandbar „Nissi Beach“ in Kos betreibt, in absoluter Bestlage.
Viele Inseln haben eine bewegte Geschichte
Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sieht das anders. „Griechenland unterdrückt weiter die türkische Minderheit in Kos, Rhodos und Westthrakien. Athen ignoriert die Werte der EU, die Menschenrechte und internationale Abkommen“, twitterte er erst kürzlich. Er tat dies auch auf Griechisch – und pochte darauf, dass die Griechen die Dodekanes-Inselgruppe in der Ost-Ägäis, zu der auch Kos und Rhodos gehören, entmilitarisieren. Unverhohlen drohte er mit Gewalt, sollte sich der ungeliebte Nachbar nicht fügen.
Die Dodekanes-Inselgruppe besteht aus zwölf Hauptinseln, 14 weiteren bewohnten und einer Vielzahl kleiner unbewohnter Inseln. Das griechische Festland ist weit weg, die Türkei liegt in Sichtweite. Von Kos sind es gerade mal fünf Kilometer über das Meer, zum beliebten Badeort Bodrum, auch das St. Tropez der Türkei genannt, sind es 24 Kilometer.
Kos, Rhodos und Co. haben eine wechselvolle Geschichte. Zuerst kamen die Mykener. Es folgten Hellenen, Römer, Byzantiner und christliche Ritter. Die Türken eroberten Ende 1522 Rhodos und Anfang 1523 Kos. Die Inseln gehörten fast 400 Jahre zum Osmanischen Reich. 1912 gerieten sie dann unter italienische Besatzung, seit 1948 gehören sie zu Griechenland. Im Sommer verbringen Millionen Touristen aus aller Welt ihren Urlaub dort.
Ob das Heer, Marine-Stützpunkte oder eine Luftwaffenbasis auf Rhodos: Die griechischen Streitkräfte sind auf den Dodekanes-Inseln durchaus präsent. Auf Kos ist das Oberkommando des 80. Bataillons der Nationalgarde stationiert, auf Rhodos das des 95. Bataillons. Das Kontingent umfasst Pionierbataillone, Panzerabwehrkompanien, Panzer- und Aufklärungsdivisionen, Artillerie sowie Flugabwehrartillerie.
Ankara beruft sich auf die Verträge von Lausanne (1923) und Paris (1947), wonach diese Inseln nicht militarisiert sein dürfen. Athen wiederum begründet die Militarisierung mit der Bedrohung durch zahlreiche Landungsboote an der türkischen Westküste und dem Recht eines jeden Staates auf Selbstverteidigung. Der Konflikt ist rhetorisch in einer bedenklichen Phase. Die Türkei stellt die Souveränität Griechenlands über etliche griechische Inseln in der östlichen Ägäis infrage. „Reißt euch zusammen, ich spaße nicht“, sagte Erdogan in Richtung Athen. Sein Sprecher Ömer Celik warnte gar, man werde „in der Nacht kommen“. Der ehemalige Oberbefehlshaber der griechischen Streitkräfte, Michail Kostarakos, konterte: „Falls ihr in der Nacht kommt, werden euch die schwarzen Fische und das Salzwasser fressen.“
Nicht nur rhetorisch zucken die Muskeln. Türkische Kampfjets verletzten zuletzt fast täglich griechischen Luftraum, überflogen Rhodos, Samos, Kos. Und Anfang Juni wohnte Erdogan dem Manöver „Efes“ bei, bei dem seine Streitkräfte an einem türkischen Strand direkt gegenüber von Samos die Einnahme eines Küstenabschnitts übten. Die türkische Nachrichtenagentur Anadolu übertrug das live.
Griechenlands Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis weist die Vorwürfe zurück. Die Türkei habe in der Nato nach den USA die zweitgrößte Armee und unterhalte eine große Landungstruppe an ihrer Westküste. Genau deshalb sei es notwendig, die griechischen Inseln zur Selbstverteidigung zu befähigen. „Ich glaube nicht, dass auch nur ein einziger denkender Mensch und auch die Türkei ernsthaft annimmt, Griechenland könne die Türkei bedrohen“, sagt Mitsotakis.
Ein Riss in den eigenen Reihen in Zeiten des Ukraine-Kriegs: Für die Nato kommt die Ägäis-Krise zur Unzeit. Griechenland und die Türkei sind seit 1952 in der Nato, somit seit über 70 Jahren in der Verteidigungsallianz. Griffe ein Drittstaat eines der Länder an, müssten die Griechen den Türken militärisch beistehen und umgekehrt. Der Ernstfall unter Bündnispartnern an der wichtigen Südostflanke wäre für die Nato katastrophal. Entsprechend hilflos wirkt sie, vermeidet jede Parteinahme. Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach nur von einer „starken Meinungsverschiedenheit“ und forderte beide Länder dazu auf, ihren Konflikt beizulegen. Es gelte, jede Handlung und Rhetorik zu vermeiden, die die Situation eskalieren könne. „In einer Zeit, in der der Krieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine den Frieden in Europa erschüttert hat, ist es umso wichtiger, dass die Alliierten vereint sind“, so Stoltenberg.
Was der Konflikt für den Tourismus bedeutet, ist eine weitere Frage. Gerade hat für beide Länder die so wichtige Reisesaison begonnen. Die Griechen hoffen nach den mageren Corona-Jahren auf einen Rekordsommer. 2019 spülte der Tourismus 18,2 Milliarden Euro ins Land. Auch die wirtschaftlich schwer angeschlagene Türkei braucht die Devisen aus dem Tourismus. Und wer macht schon Urlaub in einer Krisen- oder gar Kriegsregion? Experten sehen die Region vor einem sehr schwierigen Sommer. Der griechische Geo-Stratege Georgios Filis sagte: „Wer glaubt, die Türkei lasse sich besänftigen, der irrt gewaltig. Die Tweets von Erdogan auf Griechisch zeigen eine Vorbereitung auf militärische Aktionen.“
Griechen und Türken reden derzeit viel übereinander, aber nicht miteinander. Sogar auf höchster politischer Ebene ist der Gesprächsfaden gerissen. Erdogan erklärte kürzlich, er werde sich nie mehr mit Mitsotakis treffen. „Er existiert nicht mehr für mich.“ Was Erdogan offenbar erzürnt: Mitsotakis hatte bei seinem jüngsten USA-Besuch türkische Karten mit Gebietsansprüchen auf griechische Inseln präsentiert – und damit Waffenlieferungen der USA an Ankara erneut vereitelt.
Das griechische Außenministerium veröffentlichte zudem gleich 16 Landkarten, die „das Ausmaß des türkischen Revisionismus“ dokumentieren sollen. Demnach beansprucht die Türkei die halbe Ägäis. Griechenland sieht seine völkerrechtlich unstrittige Souveränität und territoriale Integrität gefährdet und will Ankara bewusst bloßstellen. Zwischen den Staaten schwelt seit Jahren ein Streit um Gas- und Ölvorkommen im östlichen Mittelmeer. Türkische Forschungs- und Bohrschiffe haben griechische Gewässer durchkreuzt. Wochenlang. Die Reaktion der Griechen: protestieren. Ferner verletzen türkische Kampfjets massiv den Luftraum. Fast täglich. Die Reaktion der Griechen: mit eigenen Kampfjets abdrängen, riskante Manöver.
Erdogan steht politisch unter Druck
Manche Beobachter in Athen vermuten, Erdogan verschärfe aus innenpolitischen Gründen den Ton gegen die Griechen, den ewigen Erzfeind. Schließlich stünden im nächsten Jahr in der Türkei wegweisende Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Erdogan will erneut kandidieren. Mit Parolen gegen Athen kann er beim türkischen Wähler punkten und zugleich von der tiefen Wirtschaftskrise und galoppierenden Inflation ablenken.
Das glaubt auch Nikitas Theodosis, der Bürgermeister von Kos. „Wir sind an diese Spannungen mit der Türkei gewöhnt. Das passiert nicht zum ersten Mal. Im nächsten Jahr stehen Wahlen in der Türkei an. Wir sind zwar beunruhigt, aber auf keinen Fall lassen wir uns in Angst und Schrecken versetzen.“
Doch immer mehr Experten in Athen sehen in der jüngsten Haltung Ankaras eine neue, sehr gefährliche Qualität. Ob die auflagenstarke liberalkonservative „Hürriyet“, die rechte „Milliyet“ oder das islamistische AKP-Kampfblatt „Yeni Safak“: Türkische Gazetten bilden immer wieder Karten ab, auf denen griechische Inseln beansprucht werden. Die Lesart in Athen: Ankara schüre in der türkischen Bevölkerung den Hass auf die Griechen, um so den Weg für eine militärische Aktion zu ebnen. Der private Athener Fernsehsender Skai empörte sich: „Die Türken greifen nach 22 Inseln!“ Erdogan wolle den Lausanner Vertrag annullieren, der seit 1923 die Grenzen zwischen Griechenland und der Türkei festgezurrt und den Status der muslimischen Griechen in Kos, Rhodos und Westthrakien festgelegt hat.
Bei einer militärischen Auseinandersetzung stünden sich zwei Schwergewichte gegenüber. Griechenland hat 130 000 aktive Soldaten und rangiert im Fach-Portal „Globalfirepower“ in Sachen militärische Stärke auf Rang 27 unter 142 untersuchten Ländern. Die Türkei mit 425 000 Soldaten belegt Platz 13.
Und das Wettrüsten auf beiden Seiten geht weiter. Ein Meilenstein dafür, wie es im Konflikt zwischen Athen und Ankara weitergeht, könnte der Nato-Gipfel vom 28. bis 30. Juni in Madrid sein.