Kiew – Während im Osten der Ukraine erbittert gekämpft wird, atmet Kiew ein wenig durch. Hanna Rykova, 42, lebt mit ihrem Mann und ihrem achtjährigen Sohn in Kiew. Sie lehrt am Institut für Theorie und Geschichte der Weltliteratur an der Kyiv National Linguistic University. Im Videointerview mit unserer Zeitung spricht sie darüber, wie in der Hauptstadt trotz des Krieges das kulturelle Leben zurückkehrt und wie sie seit dem russischen Einmarsch gelernt hat, Explosionen von Minen und Bomben am Geräusch zu unterscheiden.
Frau Rykova, wie haben Sie den 24. Februar, den Tag des Einmarschs in die Ukraine, erlebt?
Um 4.30 Uhr morgens hörten wir die ersten Explosionen. Mein Sohn wachte auf, fing an zu weinen und sagte als erster: „Mama, das muss ein Krieg sein.“ Wir hatten immer wieder gehört, dass ein Krieg kommen könnte. Aber dass es dann wirklich passierte, war ein Schock. Ich dachte nur: Gut, dass meine Großeltern das nicht mehr miterleben müssen. Als am nächsten Morgen die russischen Truppen nach Kiew kamen, sammelten wir all unsere Sachen zusammen und fuhren zu Verwandten ins 150 Kilometer entfernte Kanew. Da wurde uns klar, dass unser Leben nie wieder dasselbe sein wird.
Nach einem Monat sind sie zurückgekehrt nach Kiew. Wie war damals die Stimmung in der Stadt?
Es herrschte ein Gefühl der Bedrohung und der Spannung. Die Straßen waren leer, die ukrainischen Streitkräfte kontrollierten jeden. Militär, Waffen, Panzer überall. Das war sehr belastend. Aber mein Sohn sagte: „Mama, sie beschützen uns, für uns wird alles gut.“
Wie hat sich der Alltag in Kiew seitdem verändert?
Kiew ist wieder erwacht. Viele Menschen sind zurückgekehrt. Und mit ihnen das kulturelle Leben. Mehrere Theater sind wieder geöffnet, Cafés und Pizzerien ebenfalls. Und das Schönste: Die Kinder spielen wieder auf den Spielplätzen! Wir sind zwar noch vorsichtig auf dem Weg dorthin, weil wir gewarnt wurden, dass Saboteure angeblich Minen hinterlassen haben. Aber zumindest die Kinder können wieder für eine kurze Zeit vergessen, dass im Land Krieg herrscht.
Welche Einschränkungen bleiben?
Die Ausgangssperre von 23 bis 5 Uhr gilt nach wie vor. Es gibt ruhige Tage, aber auch Fliegeralarm. Wir hören manchmal die Luftverteidigung oder die Minenräumung in den Vororten. Wir haben gelernt, die Explosionen am Geräusch zu unterscheiden. Bei Luftangriffen sind wir früher in den Luftschutzbunker, jetzt gehen wir raus auf den Flur, weg von den Fenstern. Wir achten darauf, dass im Ernstfall immer zwei Wände zwischen uns und den Bomben sind. Wenn der Alarm kommt, versuchen wir, die Kinder abzulenken.
Sie mussten sich anpassen.
Wir haben Dinge gelernt, mit denen wir uns vorher nie beschäftigt hatten. Wie man sich verhält, wenn Bomben fallen. Wie man ohne Wasser oder Nahrung überlebt. Wir mussten uns Selbstberuhigungstechniken aneignen, wie man bei einer Panikattacke richtig atmet.
Wie werden Sie über die aktuelle Situation in der Stadt informiert?
Das läuft alles über Nachrichtendienste auf dem Handy. Wir haben mehrere Kanäle auf Plattformen wie Viber oder Telegram, auf denen wir uns informieren. Dort erfahren wir, welches Gebiet bereits von Minen geräumt wurde, welchen Park man wieder betreten kann und welche Orte noch gefährlich sind. Das wird täglich aktualisiert. Wir lesen die Internetseiten des Geheimdiensts und des Bürgermeisteramtes. Vitali Klitschko beantwortet laufend Fragen. Der Aufwand, der für die Information der Ukrainer betrieben wird, ist enorm.
Funktioniert die Versorgung mit Lebensmitteln?
Zunächst gab es weiter alles, weil viele Menschen, wie wir auch, die Stadt verlassen hatten. Aber mittlerweile gibt es Engpässe. Zum Beispiel beim Salz, weil das größte Salzabbauunternehmen der Ukraine seine Arbeit nach russischen Angriffen eingestellt hat. Es gibt einen Ansturm auf Zucker. Obst und Gemüse sind sehr teuer geworden. Erdbeeren und Bananen kosten zum Beispiel doppelt so viel wie vor dem Krieg. Auch Jod ist ausverkauft, weil viele Angst vor einem nuklearen Angriff haben. Die Wohnungen in Kiew sind im Gegensatz zu den Lebensmitteln deutlich günstiger geworden.
Können die Menschen zur Arbeit gehen?
Fast alle, die in der Gastronomie tätig waren, sind jetzt arbeitslos. Mein Mann arbeitet als Rechtsberater für eine Versicherung, die eine schwierige Zeit hat. Von seinem ohnehin deutlich gekürzten Gehalt fließt ein Teil an die ukrainischen Streitkräfte. Auch an den Schulen ist es leer. Eine Bekannte arbeitet an einer beliebten Privatschule. Sie sagt, von 700 Schülern sind noch 140 übrig.
Wie sieht Ihre Arbeit an der Universität aus?
In den ersten Kriegswochen gab es überhaupt kein Studium. Dann wurden die Kurse online wieder aufgenommen. Aber ohne festen Zeitplan, denn die Studenten waren in besetzen Gebieten oder in Luftschutzkellern und hatten nur schlechtes oder gar kein Internet. Jetzt wird es langsam wieder besser. In meinem Kurs sind 60 Studenten – etwa die Hälfte davon schaltet sich aus dem Ausland zu. Doch ich fürchte, dass viele an andere Unis im Ausland wechseln werden. Für mein Institut sind das keine guten Aussichten.
Wie spüren Sie den Krieg ganz persönlich?
Zum Glück wurde bisher niemand aus meiner Familie verletzt. Aber meine Freunde und ich, wir engagieren uns. Jeder auf seine Art. Manche beschaffen Medikamente und Uniformen, andere bringen Essen zu den Menschen in den zerstörten Vororten wie Butscha oder Irpen oder zum Hauptquartier der freiwilligen Kämpfer. Wieder andere beherbergen Flüchtlinge aus anderen Städten. Ein ehemaliger Klassenkamerad ist Militärsanitäter an der Front. Wir suchten Erste-Hilfe-Kästen für seine Einheit. Der Krieg hat uns zusammengeschweißt. Die Menschen in Kiew sind siegessicher. All diejenigen, die da draußen Frauen und Kinder vergewaltigen, werden ihre Strafe bekommen. Es ist nur eine Frage der Zeit.
Interview: Natalia Aleksieieva