Besuch vom Front-Mann im bayerischen Idyll

von Redaktion

VON WOLFGANG HAUSKRECHT

Elmau – Die Pressefotos, die um kurz nach 10 Uhr Schloss Elmau verlassen, lassen nur auf den ersten Blick ein lockeres Beisammensein vermuten. Die Regierungschefs der G7-Staaten schauen entspannt in die Runde, US-Präsident Joe Biden faltet die „New York Times“ zusammen, in der er gerade noch gelesen hat. Ganz anders Wolodymyr Selenskyj. Der ukrainische Präsident ist aus Kiew zugeschaltet, direkt ins Idyll von Schloss Elmau im Kreis Garmisch-Partenkirchen. Wie immer trägt er ein grünes Militär-Shirt und Bart. Sein Blick ist angespannt, fast versteinert, schwer gezeichnet von über vier Monaten blutigem Krieg in seinem Land. Und der Front-Mann hofft heute auf weitere Hilfe.

Zwei Stunden lang tauschen sich die Staatschefs aus. Die Kernbotschaft an Selenskyj: Die G7 sichern zeitlich unbegrenzte Hilfe zu. „Wir werden weiterhin finanzielle, humanitäre, militärische und diplomatische Unterstützung leisten und stehen an der Seite der Ukraine so lange wie nötig“, heißt es später in einem Statement.

Unter anderem stellt die Gruppe der Sieben eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland in Aussicht. Im Mittelpunkt sollen die Rüstungsindustrie und der Technologiesektor stehen. „Wir sind entschlossen, Russlands Einnahmen, auch aus Gold, zu reduzieren“, heißt es.

USA wollen offenbar Raketenabwehr liefern

Was im Detail besprochen wurde, wird nicht bekannt, aber Selenskyj dürfte erneut auf die Lieferung schwerer Waffen gepocht haben. Mehr schwere Waffensysteme zu fordern, ist längst sein Tagesgeschäft. Sie kommen zwar, aber aus Sicht der Ukraine viel zu langsam und viel zu spärlich, um sich dauerhaft der russischen Feuerkraft erwehren zu können.

Konkret fordert die Ukraine moderne Raketenabwehrsysteme mit hoher Reichweite, denn Russland hat seine Taktik geändert, bombardiert flächenartig, ehe die Streitkräfte vorrücken. So will Russlands Präsident Wladimir Putin die eigenen Verluste verringern und die der Ukraine erhöhen, um deren Moral zu brechen. Selenskyj hatte erst am Wochenende von einer „moralisch und emotional schwierigen Phase“ des Krieges gesprochen.

Deutsche Haubitzen bereits im Fronteinsatz

Die US-Regierung will nun einem Medienbericht zufolge tatsächlich ein modernes Boden-Luft-Raketenabwehrsystem liefern. Der US-Sender CNN berichtete gestern, die USA wollten noch in dieser Woche bekannt geben, dass sie das System mit der Bezeichnung „Nasams“ der Rüstungskonzerne Kongsberg (Norwegen) und Raytheon (USA) für die Ukraine gekauft hätten. Das System kann Ziele in 160 Kilometer Entfernung treffen. Vermutlich, berichtet CNN, würden die USA in dieser Woche noch weitere militärische Unterstützung ankündigen, darunter zusätzliche Artilleriemunition und Radargeräte.

Bereits im Fronteinsatz sind inzwischen die sieben Panzerhaubitzen 2000, die Deutschland aus Bundeswehrbeständen geliefert hat. Ein Reporter der „Bild“-Zeitung durfte einen der streng geheimen Einsatzorte besuchen. Seit einigen Tagen, heißt es in dem Bericht, würden in Deutschland ausgebildete ukrainische Soldaten damit auf russische Stellungen feuern. Einer von ihnen ist Ruslan (26). „Wir dachten, dass wir es in zehn Tagen lernen, aber wir brauchten 36 Tage, um die Panzerhaubitze zu verstehen“, sagte Ruslan dem Reporter. „Die Waffen sind sehr hoch entwickelt und eine deutsche Panzerhaubitze ist so gut wie drei der alten Sowjet-Systeme, die wir vorher genutzt haben. Die Russen sind im Artillerie-Krieg und mit ihren Waffen überlegen, aber wir hoffen, das durch weitere Lieferungen verändern zu können. Wir brauchen noch weitere!“

Selenskyj betonte gestern, die G7-Staaten müssten „alles tun“, um den Krieg noch in diesem Jahr zu beenden. Wenn er sich bis in den Winter hinziehe, werde der Krieg noch lange dauern, sagte der Präsident G7-Kreisen zufolge.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kündigte eine Verschärfung des Kurses gegenüber Russland an. „Wir werden den Druck auf Putin weiter erhöhen“, schrieb Scholz auf Twitter. „Dieser Krieg muss enden.“ Die G7-Gruppe stehe „geschlossen an der Seite der Ukraine. (…) Dafür müssen wir harte, aber notwendige Entscheidungen treffen.“

Den ukrainischen Staatshaushalt wollen die G7-Staaten dieses Jahr mit bis zu 28 Milliarden Euro stützen. Ein Teil des Geldes könnte aus erhöhten Zöllen auf russische Exporte kommen, die der Ukraine als Finanzhilfe zufließen sollen. Darauf habe man sich geeinigt, erklärte das Weiße Haus gestern am Rande des Gipfels in Elmau.

Lyssytschansk: Ukraine verhindert Kessel

An der Hauptfront im Osten ist es der Ukraine nach eigenen Angaben gelungen, westlich von Lyssytschansk russische Angriffe zurückzugeschlagen und damit eine Einkesselung der strategisch wichtigen Großstadt zu verhindern. Man habe dem Feind erhebliche Verluste zugefügt und ihn zum Rückzug gezwungen, teilte der ukrainische Generalstab mit. Unabhängig lassen sich diese Angaben nicht überprüfen.

Lyssytschansk selbst war nach ukrainischen Angaben erneut Ziel schwerer Luft- und Artillerieangriffe. Russische Einheiten stehen im Süden bereits am Stadtrand. Mehrere Vororte sind ebenfalls unter Feuer geraten. In der Stadt sollen noch mehrere tausend ukrainische Soldaten stationiert sein.

Gekämpft wird auch weiter westlich im Raum Bachmut. Die Stadt ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Nach ukrainischen Angaben konnten hier ebenfalls russische Angriffe zurückgeschlagen werden. Beim russischen Vormarsch auf den Ballungsraum Slowjansk-Kramatorsk gibt es trotz heftiger Artilleriegefechte wenig Bewegung. Aus dem Süden des Landes, im Gebiet Cherson, meldet der Generalstab ebenfalls russische Artillerieangriffe.

Nach der Meldung von Raketenbeschuss aus Belarus hat Selenskyj die Menschen im Nachbarland dazu aufgerufen, sich nicht in den russischen Angriffskrieg hineinziehen zu lassen. „Der Kreml hat bereits alles für euch entschieden“, sagte er mit Blick auf Moskau. „Aber ihr seid keine Sklaven und Kanonenfutter. Ihr dürft nicht sterben.“ Putin kündigte derweil die Lieferung von Raketensystemen vom Typ Iskander-M nach Belarus an – die auch mit nuklearen Sprengköpfen bestückt werden können.

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