München – Jeder S-Bahn-Fahrer, der von Westen her Richtung Münchner Innenstadt fährt, kann es sehen: Zwischen Laim und Hirschgarten kommen die Arbeiten für die zweite Stammstrecke gut voran. Zuletzt wurde eine Stahlbrücke über den darunter liegenden Gleisstrang des Südrings geschoben – höchste Ingenieurskunst. „Ein Meilenstein“ sei das, lobte beim Brückenschlag im vergangenen Jahr Bayerns Bahn-Chef Klaus-Dieter Josel den weithin sichtbaren, 95 Meter langen und 1360 Tonnen schwere Giganten. Das ist aber nicht das einzige Bauwerk für die künftige zweite Stammstrecke, das die Bahn vorweisen kann. Auch ein Stück vom neuen Laimer Bahnhof, der einige Meter nördlich der jetzigen Haltestelle entsteht, ist schon zu sehen. Und unter den Gleisen bei Laim ist die sogenannte Umweltverbundröhre, durch die später einmal Trams, Busse und Radler fahren werden, im Rohbau schon fast fertig.
Im Fluss sind die Bauarbeiten auch am Hauptbahnhof und am Marienhof, wo schon die Ausschachtung des künftigen Tiefbahnhofs begonnen hat. So weit fortgeschritten sind die Arbeiten, dass eine Aufgabe des Projekts undenkbar erscheint.
Und dennoch steht man bei der Bahn fünf Jahre nach dem Spatenstich, der im April 2017 stattfand, irgendwie noch fast am Anfang. Wann mit der eigentlichen Tunnelbohrung begonnen werden kann, steht zum Beispiel noch nicht fest: ungefähr 2025, heißt es intern. Und das ist die eigentliche Herausforderung. Denn die zweite Stammstrecke besteht genau genommen aus insgesamt drei Röhren. Je ein Gleis für die S-Bahn-Fahrten in Richtung West bzw. Ost, dazwischen aber eine Rettungsröhre. Alle drei Röhren, je sieben Kilometer lang, müssen mit Tunnelbohrmaschinen in West-Ost-Richtung erst noch ausgeschachtet werden. Die Rettungsröhre ist eine Auflage des Brandschutzes, sie wurde erst nachträglich 2019 in die Planung eingefügt und hat das Projekt mutmaßlich erheblich verteuert. Zweite Kostenfalle: der unterirdische Bahnhof für die künftige U-Bahn-Linie 9, die als Entlastungslinie von der Poccistraße via Hauptbahnhof zur Münchner Freiheit führen soll. Auch die U9-Haltestelle, großzügig geplant gleich mit vier Gleisen, wurde erst zwei Jahre nach der Kostenschätzung eingeplant.
Ohnehin erscheinen die aufs Komma genau taxierten Millionenbeträge in der Finanzierungsvereinbarung zwischen Freistaat und Bund aus heutiger Sicht abenteuerlich. Ministerpräsident Horst Seehofer und Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (beide CSU) setzten 2016 ihre Unterschriften unter einen Vertrag, der die Baukosten auf genau 3,176 Milliarden Euro festschrieb. Hinzu kam ein Risikopuffer von 673 Millionen Euro, zu dem die Bahn damals launig bemerkte, die „Eintrittswahrscheinlichkeit“ sei doch sehr gering.
Die Kostenschätzung ist – wie man jetzt weiß – Makulatur. Ob die Aufteilung auch bei Kostenmehrungen gilt, ist nun die Frage: 50 Prozent sollen laut der Vereinbarung von 2016 der Bund, 40 Prozent der Freistaat tragen. Der Rest wurde zwischen Stadt München und Deutscher Bahn aufgeteilt. Bricht man die jetzt von Verkehrsminister Christian Bernreiter (CSU) genannten 7,2 Milliarden Euro herunter, so müsste der Bund statt 1,55 nunmehr 3,6 Milliarden Euro zahlen, also mehr als das Doppelte. Der Freistaat wäre mit 2,9 Milliarden statt zunächst eingeplanten 1,3 Milliarden dabei.
Womöglich, unkten manche gestern, kommt alles noch viel schlimmer. Denn im Osten – ab Isar bis Leuchtenbergring – ist der Megatunnel nicht einmal genehmigt. Der Antrag auf Erteilung des Baurechts wird derzeit geprüft – weitere Überraschungen nicht ausgeschlossen. DIRK WALTER