München – Seit 19 Jahren kümmert sich der Verein Lichtblick Seniorenhilfe um Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben und deren Rente trotzdem nicht für das Nötigste reicht. Mehr als 22 000 Rentner unterstützt der Verein mittlerweile – sei es mit Essensgutscheinen, bei der Stromrechnung oder bei einer neuen Waschmaschine. Gründerin und Vorständin Lydia Staltner, 63, erklärt, wie die Inflation die Notlage der Senioren verschärft und warum die Grundsicherung nicht zum Leben reicht.
Frau Staltner, wie hart trifft Rentner die steigende Inflation der vergangenen Monate?
Wir haben eine enorme Nachfrage nach Lebensmittelgutscheinen. Die Leute können sich das Essen nicht mehr leisten. Im vergangenen Jahr hat die Lichtblick Seniorenhilfe rund 460 000 Euro für Essen bezahlt. Heuer wird es dreimal so viel sein. Viele Rentner, die wir betreuen, bekommen keine Grundsicherung, weil ihre Rente ein paar Euro über dem Grenzwert liegt – die haben dann auch keinen Berechtigungsschein für die Tafeln. Früher kamen die Rentner am 20. oder 25. des Monats, weil kein Geld mehr für Lebensmittel da war. Jetzt kommen sie am 10.
Wie viele Bedürftige melden sich aktuell bei Ihnen?
Pro Tag bekommen wir fünf bis zehn neue Anträge. Diese Größenordnung hatten wir im vergangenen Jahr auch. Aber da war die Not eine andere. Da kam einmalig eine Anfrage für einen neuen Kühlschrank und das war’s für den Rest des Jahres. Jetzt kommen die Anfragen regelmäßig.
Können Sie Beispiele nennen, wie viel Geld den von Ihnen betreuten Senioren zum Leben bleibt?
Da wäre zum Beispiel Sophie M., 70 Jahre alt. Sie lebt auf dem Land und zahlt nur 250 Euro Miete. Hat aber mit ihrer Rente von knapp 650 Euro nur rund 330 Euro zum Leben im Monat. Sie hat eine Patenschaft bei uns und bekommt von Lichtblick drei Paletten mit Holzpellets im Jahr. Letztes Jahr hat das 687 Euro gekostet. Heuer sind es 1185 Euro. Oder Wolfgang L. Er ist 83, bekommt 950 Euro Rente, davon bleiben ihm 555 Euro zum Leben. Er hat eine Stromnachzahlung von 428 Euro bekommen. Der Abschlag wurde von 43 auf 91 Euro erhöht. Das zeigt ganz deutlich: Diese Menschen schaffen es nicht allein.
In der Grundsicherung sind 155,82 Euro im Monat für Nahrungsmittel vorgesehen. Reicht das zum Leben?
Nein. Fast jedes Grundnahrungsmittel von der Milch bis zur Kartoffel ist teurer geworden. Die Rechnung geht nicht auf, obwohl viele Senioren sehr bescheiden leben und im Supermarkt permanent nach Angeboten suchen. Von den 449 Euro Grundsicherung sollen ja auch noch Rücklagen gebildet werden. 17,14 Euro pro Monat sind zum Beispiel für Gesundheitspflege vorgesehen. Es werden aber immer weniger Medikamente von der Krankenkasse bezuschusst. Da darf man keine Grippe bekommen.
Kommt zu wenig Hilfe aus der Politik?
In München brüstet sich die SPD unter Vorsitz des Oberbürgermeisters mit einem Energiekostenzuschuss von 50 Euro, der einmalig über das Sozialamt beantragt werden kann. Aber das reicht bei Weitem nicht. Und auf Bundesebene wird viel gefordert und geredet, aber es kommen wenig Lösungen. Stattdessen wird den Leuten Angst gemacht.
Versetzen die Preissteigerungen die Menschen in Panik?
Panik lässt sich im Gespräch oft nehmen. Aber die Menschen sind verunsichert. Manche der Senioren, die wir betreuen, haben den Krieg noch miterlebt. Und die sagen: Ich hätte nicht gedacht, dass wir noch mal eine Zeit erleben, in der wir hungern müssen. Ich finde, das hat unsere Gesellschaft nicht verdient.
Melden sich nur Menschen mit Geldsorgen bei Ihnen?
Nein, manche sind einfach nur traurig oder einsam. Da geht es oft erst im zweiten Schritt um den Essensgutschein und zunächst um tröstende Worte. Einige kommen nur deswegen zu uns, um für eine gewisse Zeit nicht allein zu sein und einfach mal reden zu können.
Ist es für die Senioren eine große Überwindung, sich Hilfe zu suchen?
Beim ersten Mal schon, ja. Aber mittlerweile schicken viele öffentliche Stellen wie die Diakonie oder das Rote Kreuz die Menschen zu uns. Die nehmen den Betroffenen schon im Vorfeld die Angst. Und die ist ja auch völlig unbegründet.
Ihr Verein lebt von Spenden. Kommt genug Unterstützung? Oder halten die Menschen ihr Geld derzeit eher beisammen?
Im vorigen Jahr sind in Oberbayern 3,2 Millionen Euro zusammengekommen. Wir haben aber sehr viele Kleinspender, die 20, 50 oder 100 Euro geben. Da rufen derzeit schon einige an und sagen: Im Moment geht es nicht. Viele haben in letzter Zeit für die Ukraine gespendet und die Prioritäten anders gesetzt. Das spüren wir auch. Es gibt aber auch viele treue Spender, die sagen: Gerade vor unserer Haustüre müssen wir helfen. Bisher mussten wir noch keine Anfragen von notleidenden Senioren ablehnen. Mein größter Wunsch ist, dass das auch so bleibt.
Interview: Georg Anastasiadis und Dominik Göttler