München – Die Ärzte und Wissenschaftler haben eine kühne Vision: „Unser langfristiges Ziel ist es, Gedanken laut werden zu lassen beziehungsweise hörbar zu machen“, sagt Professor Bernhard Meyer, Hirn-Spezialist und Direktor der Neurochirurgie im Uniklinikum rechts der Isar. Was ein bisschen nach Science-Fiction mit Gruselfaktor klingt, wäre andererseits ein Segen für hunderttausende Aphasiker. So nennt man Menschen mit einer krankheitsbedingten schweren Sprachstörung, die in vier von fünf Fällen durch einen Schlaganfall verursacht wird. Diesen Leidtragenden soll modernste Technik helfen, zumindest einen Teil ihrer verlorenen Sprache zurückzugewinnen – genauer gesagt ruhen die Hoffnungen auf einem sogenannten Neuroimplantat samt eines ausgeklügelten Systems an Übertragungstechnik.
Es besteht aus einem kleinen, runden Metallteil, das in der Schädeldecke verankert wird. Aus dieser sogenannten Basis heraus führen hauchdünne Kabel zu vier leistungsstarken Messsonden direkt im Gehirn. „Diese haarfeinen Sonden werden während der Operation behutsam in der Hirnrinde befestigt“, erklärt Professor Jens Gempt, leitender Oberarzt der Neurochirurgie. „Der obere Teil der Basis schaut nach dem Eingriff aus der Kopfhaut heraus, er dient praktisch als Schnittstelle. Auf diese kann später von außen ein weiteres Gerät aufgesetzt werden – die sogenannte Messeinheit. Sie überträgt die Daten später an den Computer.“
Die vier Messsonden mit ihren jeweils 64 Einzelkanälen liefern eine Fülle von Daten über die elektrische Aktivität in der Hirnrinde. „Solche Messungen helfen uns dabei, besser zu verstehen, wie die Nervenzellen und ihre Netzwerke im Gehirn die Sprache bilden. Vereinfacht erklärt, wollen wir die Entstehung von Sprache entschlüsseln“, erklärt der Neurologe und Neurowissenschaftler Prof. Simon Jacob. Er leitet die groß angelegte, mit mehreren Millionen Fördergeldern ausgestattete Studie am Uniklinikum rechts der Isar. Dort arbeiten neben Neurologen, Neurochirurgen und Neurowissenschaftlern auch Ingenieure und IT-Spezialisten mit viel Elan Hand in Hand, um das Forschungsprojekt voranzubringen.
Ihre Pionierarbeit nährt die Hoffnung auf einen Durchbruch bei der Rehabilitation von Aphasikern: „Vielleicht wird es einmal möglich sein, dass ein Schlaganfall-Patient mit seinen Gedanken beispielsweise einen Sprachcomputer steuert“, beschreibt Klinikchef Meyer eine Vision der Ärzte. Ob dieser Therapie-Traum für Schlaganfall-Opfer tatsächlich wahr werden kann, sei allerdings noch nicht gesichert, betonen alle Wissenschaftler des Uniklinikums. Zuvor müsse vermutlich jahrelange Grundlagenforschung und Entwicklungsarbeit geleitet werden. Aber auch ohne diesen ganz großen Coup werden die Patienten enorm von der Hightech-Hilfe profitieren. Das zeigt sich am Fall einer Münchnerin, die jetzt im Uniklinikum als erste Patientin weltweit mit dem speziellen Neuroimplantat ausgestattet worden ist.
Künftig kommt die Patientin mehrmals wöchentlich ins Klinikum, um mit den Spezialisten ihre Sprache zu trainieren. Während dieser Übungen liefert die Messeinheit Daten aus ihrem Gehirn, die dann mit speziellen Computerprogrammen ausgewertet und langfristig in Therapie-Ansätze umgemünzt werden sollen. „Gleichzeitig erzielt die Patienten durch das intensive Üben einen Lerneffekt und kann dadurch ihre Sprachfähigkeit voraussichtlich wieder verbessern“, berichtet Prof. Jacob. Die Patientin hatte sich auf einen Bericht in unserer Zeitung gemeldet. Damals hatten die Experten vom Uniklinikum rechts der Isar Teilnehmer gesucht, die sich an der Studie zu dem Neuroimplantat beteiligen möchten.
Nach wie vor können sich Interessenten per Mail melden unter aphasie-studie@mri.tum.de. Sie müssen übrigens – trotz aller Zukunftstechnik – nicht fürchten, dass ihr Gehirn durch das Implantat beeinflusst wird. „Es handelt sich um reine Messtechnik, die nicht in die Hirnaktivität eingreift“, betont Prof. Jacob. „Für die Patienten bedeutet das Implantat vielmehr eine Hilfe zur Selbsthilfe“, sagt Klinikchef Meyer. „Sie gewinnen dadurch die Chance, ihre Aphasie mit optimaler fachlicher und technischer Unterstützung zu bekämpfen. Gleichzeitig ermöglichen sie durch ihre Mitarbeit, dass die Medizin künftigen Generationen von Schlaganfall-Opfern effektiver helfen kann.“