Olympia-Attentat: Zeitzeugen erzählen ein letztes Mal

von Redaktion

VON GÜNTER KLEIN

Schwabhausen – Joachim Day war elf Jahre alt, als am 5. September 1972 diese eine Meldung die Wahrnehmung der Olympischen Spiele in München komplett veränderte. Alles war so unbeschwert bis dahin, am Abend zuvor hatte die 16-jährige Gymnasiastin Ulrike Meyfarth Gold im Hochsprung gewonnen. Wenige Stunden später, es war noch gar nicht richtig Tag, drangen palästinensische Terroristen ins Olympische Dorf und die Räume der israelischen Sportler und Funktionäre ein. „Ich kann sagen, wo ich stand, als ich davon erfuhr, und ich war der, der im Elternhaus in Weil am Rhein die Familie informierte“, sagt Day.

Bei den Days war es wie bei vielen anderen in der noch jungen Bundesrepublik, die genoss, dass die Welt gerade ein ganz anderes Bild von ihr bekam als vom furchtbaren Nazi-Deutschland. „Wir klebten Stunden am Fernseher. Wir sogen die Bilder auf, doch unsere Begeisterung wurde völlig zerstört.“ Obwohl er ein Kind war, „habe ich kapiert, wie schrecklich das ist. Ich fragte meinen Vater: ,Glaubst du, dass die Spiele fortgesetzt werden?‘“

Joachim Day wurde Sportjournalist, er hat vor allem fürs ZDF gearbeitet, Menschen interessierten ihn immer mehr als die Hatz nach Ergebnis und Erfolg. Nun hat er etwas geschaffen, was die anschauen wollen werden, die mit dem Attentat persönliches Erleben verbinden. Und was die anschauen sollen, die vor 50 Jahren noch nicht auf der Welt waren.

Noch heute verlieren viele Zeitzeugen beim Erzählen die Fassung

Es ist ein großes historisches Thema, 300 Minuten Stoff in zwölf Interview-Folgen. Auftraggeber ist der Landkreis Fürstenfeldbruck. Der hat sich immer schon für das Gedenken an 1972 engagiert und konzipiert gerade die Internetseite „Erinnerungsort Fürstenfeldbruck“. Ab 5. September sollen die Interviews unter www.erinnerungsort-fuerstenfeldbruck1972.de abrufbar sein.

Day hat in Schwabhausen im Kreis Dachau, wo er lebt, in einem Saal sechs Mal ein Studio mit vier Kameras auf- und wieder abgebaut. Hier produzierte er zehn der zwölf Interviews, jedes um die 25 Minuten lang. Day hat jedem Teilnehmer zugesagt, ihn gut aussehen zu lassen. Manchmal musste er unterbrechen, damit die, die erzählen, die Fassung wiederfinden, die sie beim Erinnern verlieren. 110 Tage Arbeit von der Auftragserteilung Ende 2018 bis zum finalen Schnitt hat er in dieses Projekt gesteckt.

Der Landkreis besitzt durch Days Arbeit einen historischen Schatz: Zwei der Zeitzeugen, Hans-Jochen Vogel und Walther Tröger, sind schon verstorben. Niemand kann sie mehr befragen. „Und fünf, sechs weitere der Zeitzeugen“, sagt Day, „werden keine Interviews mehr geben. Sie wollten ein letztes Mal noch sprechen.“

Ihm haben die Gespräche auch zugesetzt. Am 27. Januar 2020 war Day bei Hans-Jochen Vogel im Münchner Seniorenheim Augustinum. Am Ende sagte Vogel: „Herr Day, ich bedanke mich herzlich bei Ihnen für dieses intensive Interview und dass Sie sich der Sache annehmen. Viele Interviews wird’s nicht mehr geben.“ Als hätte er es geahnt: Sechs Monate später starb Münchens Alt-Oberbürgermeister, der die Spiele nach München holte, 94 Jahre alt.

Oder Walther Tröger: Beim damaligen Bürgermeister des Olympischen Dorfs und späteren hochrangigen Sportfunktionär war Day am 27. September 2020 in Frankfurt in der Lobby des Deutschen Olympischen Sport-Bundes zu Gast – Tröger ging am 30. Dezember desselben Jahres.

Beide, Vogel und Tröger, haben zwar öfter über die schrecklichen Stunden von 1972 gesprochen, dennoch bekam Day den Eindruck: „Es ist ihnen ein Stein vom Herzen gefallen, dass sie es noch einmal packten, dazu so lange Stellung zu nehmen.“ So war es bei vielen. Für einige war es auch das erste – und einzige – Mal, dass sie vor einer Kamera saßen. Wie für Alfred und Anton Fliegerbauer, Bruder und Neffe des auf dem Luftwaffenstützpunkt in Fürstenfeldbruck erschossenen Polizisten. Andreas Zenglein erlebte als Bundesgrenzschützer das Massaker mit, Sanitäter Axel Kaiser musste sich um die 15 Getöteten, Geiseln wie Attentäter, kümmern. Fünf deutsche Streifenpolizisten, keine Scharfschützen, hatten die beiden Hubschrauber, besetzt mit Geiseln und Terroristen, unter Feuer genommen. Am Ende richteten die Terroristen mit Gewehren und Handgranaten die Israeli hin. „Zenglein und Kaiser haben die verkohlten Leichen gesehen, die Geiseln trugen noch die Fesseln. Beide sagten, jetzt, wo ich sie befrage, kehre der Leichengeruch zurück.“ Eine psychologische Betreuung gab es nicht. Day: „Einige waren auch enttäuscht, wie danach mit ihnen umgesprungen wurde. Eine Urkunde, dass sie die Olympischen Spiele mit ihrer Teilnahme bestückt hatten, musste genügen.“

Auch wer mit Olympia hätte restlos glücklich sein müssen, wie Klaus Wolfermann, der zwei Tage vor dem Attentat Gold im Speerwurf gewann, kehrt in seinen Erinnerungen immer auch zum 5. und 6. September zurück. Wolfermann sagte zu Day, er könne bis heute nicht darauf antworten, ob er angetreten wäre, hätte sein Wettkampf danach stattgefunden.

Damals gab es mehr Verständnis für die Entscheidungen

Ein Tag, zwölf Perspektiven – und eine große Übereinstimmung. „Dass Bundesgrenzschutz und Polizei nicht so ausgestattet waren, wie sie es hätten sein sollen. Es sind unfassbare Dinge geschehen wie dass der Strom nicht abgestellt wurde und die Attentäter alles live am Bildschirm verfolgen konnten“, sagt Day.

Deutschland war bemüht, 27 Jahre nach dem Zweiten  Weltkrieg ein neues, freundliches Bild von sich zu zeichnen. Doch ebenso war Deutschland mitten im RAF-Terror naiv. Vogel, verrät Day aus dem Interview, skizzierte, dass es „zum damaligen Zeitpunkt mehr Einverständnis mit den Entscheidungen gab als im Nachhinein“.

Fast 50 Jahre danach wird einer der einschneidendsten Tage deutscher Geschichte wieder präsent werden. Und man wird aufs Neue darüber nachdenken: War es richtig, weiterzumachen mit den Spielen, kaum dass der Rauch über dem Flugplatz sich verzogen hatte?

Auch der elfjährige Joachim Day saß nach dem „The Games must go on“ von IOC-Präsident Avery Brundage wieder vor dem Bildschirm – und erklärt heute, warum das damals so war: „Die Menschen wollten es nicht wahrhaben, dass ein paar Terroristen ihnen die Freude nehmen. Ich sehe es nicht als Übersprungshandlung, sondern als bewusste Reaktion, dass die Stimmung wieder aufkeimte und die Spiele fröhlich zu Ende gingen.“

Artikel 2 von 4