München – Rüdiger von Fritsch begann seine Arbeit als Botschafter in Moskau 2014, also in dem Jahr, als Russland die Krim annektierte. Diese russische Aggression war das prägende Ereignis der fünf Jahre, die von Fritsch als Botschafter in Russland arbeitete. Bis zu seinem Ruhestand ab 2019 begegnete der deutsche Botschafter Wladimir Putin oft – und erlebte den russischen Präsidenten als einen „autokratischen Führer, der sich mehr und mehr der Beratung entzieht, dessen Weltsicht sich verzerrt und der von einem Gefühl der Bedrohung getrieben ist“. In seinem Buch Zeitenwende (Aufbau Verlag, 18 Euro) beschreibt von Fritsch mögliche Szenarien, wie der Ukraine-Krieg enden könnte. Im Gespräch analysiert der 70-Jährige, der heute Partner des Beratungsunternehmens Berlins Global Advisors ist, welche Verhandlungslösungen es geben könnte und was hinter der Eskalation im Gas-Krieg mit der EU und Deutschland steckt.
Wladimir Putin begründet die erneute Drosselung der Gaslieferungen mit technischen Gründen. Warum sagt er nicht geradeheraus: Wir sind im Wirtschaftskrieg, das ist die Reaktion auf die EU-Sanktionen?
Wir waren es, die mit dem Embargo auf russische Kohle und Öl als Erste Energie als Waffe eingesetzt haben. Putin hat erst nach vier Monaten mit diesem Spiel Gas runter, Gas rauf begonnen, das wir jetzt erleben. Er ist eben dramatisch abhängig von den Gas-Einnahmen. Dieses Geld benötigt er, um sich ständig die Zustimmung der russischen Bevölkerung zu seiner Politik zu erkaufen. Wenn ihm diese Gas-Einnahmen komplett wegbrechen, kommt sein System in große Schwierigkeiten.
Einen Tag nach Abschluss des Getreide-Abkommens wurde der Hafen von Odessa mit Raketen angegriffen. Kann man mit Wladimir Putin je einen Friedensvertrag abschließen, wenn er sich derart offensichtlich nicht an Vereinbarungen hält?
Abkommen dienen dazu, zumindest gewisse Ziele zu erreichen – deshalb ist es gerade in der humanitären Frage der Getreideversorgung richtig, solch einen Vertrag zu schließen. Was seine Vertragstreue angeht, müssen wir daran zurückdenken, dass Moskau Kiew 1994 die Unverletzlichkeit der Grenzen garantiert hatte, wenn die Ukraine im Gegenzug die dort stationierten sowjetischen Atomwaffen abgibt. Russland hat dieses Abkommen gebrochen, weil die Ukraine nicht in der Lage war, sich dagegen zu wehren. Für ein künftiges Friedensabkommen bedeutet das also, dass sich Kiew nur darauf einlassen kann, wenn es zuverlässig geschützt ist, zum Beispiel durch Garantiemächte.
Die Forderung, die Ukraine zu einer Verhandlungslösung zu drängen, wird angesichts der drohenden Gas-Knappheit bei uns immer lauter. Die von Russland eroberten Gebiete hergeben, dafür dauerhaft Frieden – ist das ein Deal, auf den sich Selenskyj einlassen könnte?
Über das Schicksal der Ukraine können ausschließlich die Ukrainerinnen und Ukrainer entscheiden. Das Letzte, was die Länder Ostmitteleuropas brauchen, sind territoriale Neugliederungsvorschläge aus Deutschland zugunsten Russlands.
In der Ukraine scheint es ja derzeit keine Bereitschaft zu geben, Gebiete abzugeben. Bedeutet das, dass dieser Krieg noch sehr lange dauern wird?
Es ist zu befürchten, dass dieser Krieg sich noch lange hinziehen wird, denn im Kern geht es um die Frage, ob Russland die Ukraine komplett unterjochen wird, oder ob die Ukrainer ihre Souveränität behalten können. Diese Ziele stehen so fundamental gegeneinander, dass derzeit keine Lösung in Sicht ist – es sei denn, es kommt zu einem Patt, in dem keiner der Schwächere ist. Deshalb wohl hält sich auch das Land zurück, das am ehesten eine Lösung vermitteln könnte: China.
Aber im Westen lässt jetzt schon sichtlich die Geduld nach. Wie lange halten die Deutschen die Gegensanktionen durch?
Die Entschlossenheit, mit der der Westen dieser Aggression entgegentritt, ist ganz entscheidend. Auf Deutschland blickt Putin dabei besonders genau. Es ist erkennbar, dass er versucht, über die Energieabhängigkeit Streit innerhalb der EU und innerhalb der einzelnen Staaten herbeizuführen. Dabei muss uns allen klar sein: Es geht um viel mehr als nur um die Ukraine. Putin will, dass der Westen sich militärisch an der Ostgrenze selbst entblößt. Erreicht hat er aber das Gegenteil: Die Nato ertüchtigt sich massiv an der Ostgrenze, neue Staaten treten bei.
Bekommt das russische Volk mit, dass Putin seine Kriegsziele so fundamental verfehlt hat?
Die russische Propaganda wird in letzter Zeit immer fanatischer. In der Zeit, als ich Botschafter war, gab es noch Reste freier Medien – damit ist es inzwischen vorbei. Russland ist von einem autoritären zu einem diktatorischen Regime geworden. Doch die Menschen spüren die Sanktionen inzwischen sehr konkret. Die Frage ist nur: Siegt der Fernseher oder der Kühlschrank? Im Moment siegt noch das TV, aber Putin fürchtet, dass irgendwann der leere Kühlschrank dazu führen könnte, dass die russischen Mütter auf die Straße gehen.
Wirken die Sanktionen?
Die Menschen in Russland spüren sie sehr wohl. Der russische Verkehrsminister hat erklärt, die Export-Infrastruktur sei „komplett zerstört“. Lada hat in diesem Jahr zwei Drittel weniger Autos verkauft als im Vorjahr. Die russische Bauindustrie ist komplett abhängig von westlicher Technologie. Die Sorge Putins ist, dass irgendwann jemand wie damals Lech Walesa in Polen kommt, der die wachsende Unzufriedenheit bündelt und die Leute in Massen auf die Barrikaden treibt.
Wie echt war Putins anfängliche Annäherung an den Westen?
Er ist sicher nicht 2000 Präsident geworden, um 2022 die Ukraine zu überfallen. Seine Rede im Bundestag 2001 war im Wesentlichen eine Rede ans eigene Land: Ich will dafür sorgen, dass Russland in die Demokratie und die Marktwirtschaft geführt wird, dass die russische Geschichte aufgearbeitet wird. All dieses hat er nicht wahr gemacht! Vielmehr hat er bei den ersten Problemen mit den klassischen Reflexen eines KGB-Offiziers reagiert: Repression im Inneren, Planwirtschaft… Der Geheimdienst-Mann kann sich hinter echter Unzufriedenheit nichts anderes vorstellen als Steuerung durch dunkle Mächte von außen.
Ist Putin auch deshalb zum Diktator geworden, weil der Westen ihn zu oft enttäuscht hat?
Es ist schon bemerkenswert, dass das größte Land der Erde sich ständig das Recht herausnimmt, besonders beleidigt zu sein. Russland hat eigene Fehler in der Geschichte nicht aufgearbeitet. Man hat sich zum Opfer stilisiert, anstatt anzuerkennen, dass zum Beispiel die Sowjetunion an den eigenen, inneren Widersprüchen zerbrochen ist. Insbesondere Deutschland hat sich umfassend bemüht, auf die Befindlichkeiten Russlands einzugehen. So wurden die G7 auf Drängen Deutschlands zur G8 erweitert, so wurde vor der Nato-Osterweiterung ein gesondertes Abkommen mit Russland abgeschlossen, um diese Erweiterung für Russland erträglich zu machen. Damals sagte Putin noch, dass die Erweiterung der Nato die Sicherheit Russlands nicht bedrohe.
Es gibt durchaus auch die Debatte, ob wir uns zu sehr um Russland bemüht haben…
Es war eine gemeinsame Politik des Westens, nicht nur eine deutsche, auf die Verletzung vereinbarter Regeln entschlossen zu reagieren und zugleich Konflikte im Dialog zu lösen – von Rüstungsbegrenzungs-Abkommen mit der Sowjetunion bis hin zum Minsker Abkommen 2015 nach der Krim-Annexion. Doch mit dem Angriff auf die Ukraine im Februar hat Putin das Schachbrett umgeworfen und gesagt, die Regeln für das Spiel, auf die wir uns alle geeinigt hatten, gelten ab jetzt nicht mehr.
Aber es gibt ja einen Unterschied zwischen Kooperation und zu viel Nähe – denken wir an Gerhard Schröder oder auch an Edmund Stoiber, die ein freundschaftliches Verhältnis zu Putin pflegten…
In jeder Partei, mit Ausnahme der Grünen, die konsequent bei ihrer Linie geblieben sind, gab es Einzelne, die eine sehr viel größere Nähe zu Russland propagiert haben und Sanktionen mit dem verfehlten Argument verhindern wollten, das bringe doch nichts.
Das Interview führten Klaus Rimpel und Mike Schier