Auf der Flucht vor den Taliban – und vor Putin

von Redaktion

Afghanische Stewardessen kämpfen in Freising um Anerkennung als ukrainische Flüchtlinge

VON MANUEL ESER

Freising – Sie zählten zu den ersten weiblichen Flugbegleitern in Afghanistan und flogen mit großen Persönlichkeiten an Bord um die Welt. Doch dann mussten Fatima (26) und Shabnam (24, Namen geändert*) fliehen – erst vor den Taliban, dann vor der russischen Armee. Nach der Erfahrung zweier Kriege innerhalb eines halben Jahres sind die Schwestern jetzt im Landkreis Freising gelandet – und wollen nur eines: ein normales Leben. Allerdings macht das Landratsamt in Freising ihnen das schwer.

„Es ist total unfair“, sagt Fatima. Vier Worte, die sich auf den Umgang der Kreis-Behörde mit ihr und ihrer Schwester beziehen, aber auch auf ihr ganzes bisheriges Leben, das von Vertreibung und Flucht geprägt ist.

Vor noch etwas mehr als einem Jahr sah die Zukunft für Shabnam und Fatima rosig aus, wie sie bei einem Treffen mit unserer Zeitung in fließendem Englisch berichten. Die beiden lebten in Kabul, studierten an der Uni Betriebswirtschaftslehre und arbeiteten als Flugbegleiterinnen. Der ehemalige Präsident Hamid Karzai flog bei ihnen mit, und auch den afghanischen Popstar Aryana Sayeed betreuten sie. Trotz der Wirrungen, die damals schon in ihrem Heimatland herrschten, sagt Fatima: „Das waren unsere goldenen Jahre.“

Sie endeten abrupt und brutal. Als die Taliban mit dem Abzug der Nato die gewählte Regierung stürzten, fühlten sich die Schwestern nicht mehr sicher. Nicht als Teil der schiitisch geprägten Minderheit der Hazara, schon gar nicht als moderne Frauen. „Wir hatten keine andere Wahl, als zu fliehen“, betont Shabnam. In ihrer „schwärzesten Nacht“, es ist die Nacht zum 16. August, finden sie sich im Chaos des Kabuler Flughafens wieder. Wie tausende andere verzweifelte Afghanen harren sie aus, um einen Platz in einem der wenigen rettenden Flugzeuge zu ergattern. Unter dramatischen Umständen gelingt es ihnen. Noch beim Einstieg in die Maschine wissen sie nicht, wo es für sie hingeht. Erst an Bord erfahren sie, dass das Ziel Kiew heißt – nicht etwa die viel nähere pakistanische Hauptstadt Islamabad, wie sie hofften.

In der Ukraine machen die beiden tatkräftigen Frauen sofort das Beste aus ihrer Situation. Sie organisieren sich ein Certificate of Protection, eine Anerkennung ihrer Schutzbedürftigkeit, und nehmen Kontakt zu einer ukrainischen Airline auf. Ohne zu zögern habe das Unternehmen sie angestellt, sagen Fatima und Shabnam. Sie hätten eine Steuernummer erhalten, in der Personalabteilung gearbeitet, Arbeitskräfte rekrutiert – und auf den Startschuss für das Training gewartet, um selbst wieder als Stewardessen fliegen zu dürfen. Doch bevor dieses Coaching beginnt, rollen russische Panzer in die Ukraine. Die Schwestern beschließen, erneut zu flüchten – im Gepäck die Papiere, die ihren Aufenthaltsstatus in der Ukraine dokumentieren.

Nach einigem Hin und Her landen Fatima und Shabnam über das Ankerzentrum Fürstenfeldbruck im Landkreis Freising. Seit 6. Juli sind sie in einer Unterkunft in Rudelzhausen untergebracht – mit 22 anderen Geflüchteten teilen sie sich ein Bad. Die Internetverbindung ist schlecht, noch schlechter ist die Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel. Busse fahren nur sporadisch und zu Zeiten, die den Schwestern kaum helfen. Dabei ist es für sie wichtig, gut ins 27 Kilometer entfernte Freising zu kommen: um Termine beim Psychologen wahrzunehmen, Sprachkurse zu besuchen – und vor allem, um Behördengänge zu machen.

Fatima und Shabnam wollen nach dem Paragrafen 24 des deutschen Aufenthaltsgesetzes im Land bleiben. Denn dann könnten sie hier sofort studieren oder arbeiten – zum Beispiel am Flughafen München, der händeringend Personal sucht. Der Paragraf 24 wird derzeit regelmäßig bei ukrainischen Staatsbürgern angewandt. Ein Schreiben des Bundesinnenministeriums weist explizit darauf hin, dass auch alle Staatsangehörige von Drittländern anspruchsberechtigt sind, die vor dem 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Angriffs, Schutz in der Ukraine genossen haben.

Genau das aber will das Landratsamt Freising bis dato nicht anerkennen, sondern die beiden Frauen in ein Asylverfahren drängen. Ein solches kann sich über ein Jahr oder länger hinziehen – bei völlig offenem Ausgang. „Für uns ist das eine Sackgasse“, beklagt Shabnam. „Wir wollen nicht zur Untätigkeit verdammt sein, sondern etwas aus unserem Leben machen. Wir haben keine Zeit mehr zu verschenken.“

Die beiden Frauen berichten, dass ihnen die Sachbearbeiterin im Landratsamt in einem sehr bestimmten Ton mitgeteilt habe, dass sie einen Aufenthalt nach § 24 beantragen könnten, der aber wohl nicht bewilligt werde. Beide müssten dafür 100 Euro Gebühren bezahlen – bei 330 Euro Sozialhilfe monatlich eine Summe mit Abschreckungspotenzial.

Auf Nachfrage unserer Zeitung teilte das Landratsamt mit, dass mit den Dokumenten, die die beiden Frauen dem Ausländeramt vorgelegt haben, „kein rechtmäßiger Aufenthalt in der Ukraine nachgewiesen werden“ konnte. Laut Weisungslage komme daher die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 nicht in Betracht. Das Vorgehen sei mit der Regierung von Oberbayern und dem Bayerischen Innenministerium abgestimmt. Für die Ablehnung des Antrags werde aber keine Gebühr erhoben.

Für Julika Sandt ist die Haltung des Landratsamts ein Unding. Die FDP-Landtagsabgeordnete hat die Frauen bei einem Besuch im Ankerzentrum Fürstenfeldbruck kennengelernt. „Sie haben mich dort angesprochen, und ich habe sofort gemerkt, dass sie etwas Besonderes sind. Sie waren Vorbilder in ihrem Heimatland und wären ein Gewinn für unsere Region.“ Aus Sandts Sicht haben Fatima und Shabnam ein Recht darauf, über Paragraf 24 aufgenommen zu werden – zumal das Ankerzentrum Fürstenfeldbruck sie auch mit genau dieser Empfehlung nach Freising geschickt hat.

In einem ausführlichen Brief hat sich die FDP-Abgeordnete nun an Innenminister Joachim Herrmann gewandt. Dort schreibt sie unter anderem auf die Rechtsinterpretation des Freisinger Landratsamtes gemünzt: „Ich habe mich mit mehreren Juristen ausgetauscht, die unisono die Meinung vertreten, das könne nicht zutreffen.“ Sie kritisiert, die jungen Frauen müssten sich nach all den schrecklichen Erlebnissen jetzt einem „Behörden-Ping-Pong“ stellen.

Der Freisinger FDP-Kreisrat Tobias Weiskopf sieht das ähnlich. „Ich finde, dass das Landratsamt in diesem Fall zu restriktiv vorgeht“, kritisiert er. „Wir haben es hier mit zwei integrationswilligen, tatkräftigen jungen Frauen zu tun, die ein schweres Schicksal hinter sich haben. Sie haben es verdient, dass man alle Spielräume und alle Mittel ausschöpft, um ihnen zu helfen.“

Die Schwestern haben eine klare Erwartungshaltung ans Landratsamt. „Wir wollen nicht diskriminiert werden“, sagt Fatima, Shabnam fügt hinzu: „Wir erwarten, dass wir gerecht behandelt werden.“ Sie wüssten von mehreren Fällen aus Sachsen, Bremen und Hamburg, wo aus der Ukraine geflüchtete Afghanen nach § 24 problemlos aufgenommen worden seien. Menschen, die wie sie, vielleicht im selben Flieger, damals aus Kabul nach Kiew entkamen – und zwar vor Putins Angriff. „Die mussten zum Teil nur ein Foto von ihren Dokumenten schicken.“

Woher die beiden nach so vielen traumatischen Erfahrungen ihren Mut und ihre Kraft nehmen? Von ihrer Mutter, sagen sie. Die habe sich allein um die sechs Kinder gekümmert, als der Vater 1997 im Kampf gegen die Taliban gestorben sei. Die Familie sei damals nach Pakistan geflüchtet, die Mutter habe hart als Haushälterin gearbeitet und jede Rupie, die übrig blieb, gespart, um ihre Töchter auf eine gute Schule schicken zu können. „Sie ist eine starke, fokussierte Frau“, sagt Fatima. So wie sie und ihre Schwester.

Dieses Schicksal bewegt Julika Sandt. „Wir Abgeordnete werden immer wieder mit Einzelschicksalen konfrontiert“, sagt sie. Nicht jedem könne man helfen. „Aber das hier ist ein einzigartiger Fall, und daher ist es mir ein großes Bedürfnis, zu unterstützen. Für diese tollen jungen Frauen muss es doch jetzt endlich einmal ein glückliches Ende geben.“

* Hinweis

Weil die Schwestern Repressalien durch die Taliban für Angehörige fürchten, die noch in Afghanistan leben, wollen sie anonym bleiben, weswegen wir ihnen andere Namen gegeben und sie auch nicht von vorne fotografiert haben.

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