Taipeh/München – Es gibt ein Video aus dem September 1991, das derzeit wieder viel geteilt wird in den sozialen Netzwerken. Es zeigt Nancy Pelosi, damals einfache Abgeordnete im US-Repräsentantenhaus, auf dem Tiananmen-Platz in Peking. Mit zwei Kollegen entrollt Pelosi an jenem Ort, an dem zwei Jahre zuvor hunderte Studenten von Chinas Kommunisten niedergeschossen worden waren, ein Transparent. „Für jene, die für die Demokratie in China gestorben sind“, steht darauf. Momente später schreitet die Polizei ein und beendet die kleine Gedenkveranstaltung.
Nancy Pelosi, die Unbeugsame, so sehen Anhänger der US-Demokratin die Politikerin. Nancy Pelosi, die Provokateurin, so sieht das Peking. Pelosi, die sich in den vergangenen Jahren immer wieder kritisch zu China geäußert hat, ist für Peking ein rotes Tuch. Nicht nur, weil sie heute als Vorsitzende des Repräsentantenhauses nach Präsident Biden und Vizepräsidentin Harris die Nummer drei in der politischen Hierarchie der USA ist, reagiert Peking so erzürnt auf den Taiwan-Besuch der 82-Jährigen, sondern eben auch, weil sie Nancy Pelosi ist.
Pelosi bekräftigt Solidarität mit Taiwan
Am Dienstagabend, 22.45 Uhr Ortszeit, landete Pelosi an Bord einer Boeing C-40C der US-Luftwaffe am Flughafen Songshan, wo sie von Taiwans Außenminister Joseph Wu empfangen wurde. Zuvor hatte sie auf ihrer mehrtägigen Asienreise den Stadtstaat Singapur und Malaysia besucht. Der Zwischenstopp in Taiwan war von Pelosi nie offiziell bestätigt worden, wohl aus Sicherheitsgründen.
„Der Besuch unserer Delegation in Taiwan unterstreicht das unerschütterliche Engagement Amerikas für die Unterstützung der lebendigen Demokratie in Taiwan“, teilte Pelosi nach der Landung mit. „Amerikas Solidarität mit den 23 Millionen Menschen in Taiwan ist heute, da die Welt vor der Wahl zwischen Autokratie und Demokratie steht, wichtiger denn je.“ Zugleich betonte Pelosi, die heute mit Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen zusammenkommen soll und anschließend nach Südkorea und Japan weiterreisen wird, dass sich an der China-Politik der USA durch ihren Besuch nichts ändere.
Die Volksrepublik betrachtet Taiwan als „abtrünnige Provinz“ und versucht seit Jahren, den demokratisch regierten Inselstaat zu isolieren. Zudem droht die Führung in Peking damit, Taiwan notfalls mit Gewalt mit dem Festland „wiederzuvereinigen“. Treffen ausländischer Politiker mit der taiwanischen Regierung lehnt Peking ab. „Die Kommunistische Partei Chinas sieht den Einfluss der USA auf Taiwan nicht nur als Sicherheitsbedrohung für das Gebiet, das sie als ihr Territorium betrachtet, sondern auch für die langfristige Legitimität und Herrschaft des Parteistaats“, erklärt Valarie Tan, Analystin bei der Berliner China-Denkfabrik Merics. Für Pekings Führung ist die Wiedervereinigung mit der Insel eine historische Aufgabe.
Seit dem Taiwan-Besuch von Newt Gingrich vor 25 Jahren ist Pelosi die ranghöchste US-Politikerin, die in Taipeh empfangen wird. Pelosis Besuch werde zwar „weitgehend als symbolisch angesehen“, sei aber dennoch wichtig, sagt Tan. „Schließlich ist Taiwan ein wichtiger Wirtschafts- und Handelspartner nicht nur für Amerika, sondern für die ganze Welt.“ So hat in Taiwan einer der weltweit größten Auftragsfertiger für Halbleiter seinen Sitz. Die Visite, sagt Tan, sei „ein notwendiges Gegengewicht gegen den weltweiten Druck, den China ausübt, um Taiwan von der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu anderen Ländern oder der Beibehaltung formeller Mitgliedschaften in internationalen Organisationen abzuschneiden und zu isolieren“.
Im Vorfeld des Besuches hatte China mit „schweren Konsequenzen“ gedroht. In einem Interview sagte Außenminister Wang Yi am Dienstag: „Der Verrat der USA an Vertrauen und Gerechtigkeit in der Taiwan-Frage ist eine Schande.“ Ohne Pelosi namentlich zu nennen, schimpfte Wang Yi: „Einige US-Politiker sind nur auf ihre eigenen egoistischen Interessen bedacht und spielen in der Taiwan-Frage offen mit dem Feuer, indem sie sich die 1,4 Milliarden Chinesen zum Feind machen, was niemals gut ausgehen wird.“ Ähnlich hatte sich vergangene Woche Chinas Staatspräsident Xi Jinping in einem mehr als zweistündigen Gespräch mit Joe Biden ausgedrückt.
China reagiert und lässt Kampfjets aufsteigen
Am Dienstag ließ Peking dann erste Taten folgen. Mehrere Kampfjets näherten sich Taiwan, flogen dabei dicht an die sogenannte Medianlinie heran, eine Art inoffizieller Grenze zwischen der Insel und dem Festland. Später überquerten Kampfflugzeuge offenbar die Taiwanstraße. Zudem kündigte Chinas Volksbefreiungsarmee für Ende der Woche „wichtige militärische Übungen und Trainingsaktivitäten“ rund um Taiwan an. Auch die US-Marine brachte sich in Stellung und verlegte den Flugzeugträger „USS Ronald Reagan“ in die Region – zu einem Routineeinsatz, wie es hieß.
Die Biden-Regierung zeigte sich im Vorfeld von Pelosis Reise beunruhigt, musste sich aber mit der Rolle des Beobachters begnügen. Außenminister Antony Blinken betonte am Montag in New York, dass es allein Pelosi sei, die zu entscheiden habe, ob sie nach Taipeh reise oder nicht. Sollte „China versuchen, eine Krise heraufzubeschwören oder die Spannungen anderweitig zu verschärfen, so läge das allein an Peking“, sagte Blinken.
Schon im April wollte Pelosi nach Taiwan, bekam dann aber Corona. Peking reagierte damals überraschend entspannt, im Vergleich zu heute waren die Töne geradezu gemäßigt. Wenn man will, kann man das mit dem innenpolitischen Druck erklären, der auf Staats- und Parteichef Xi Jinping lastet. „Der Zeitpunkt der Reise ist für Xi und Chinas oberste Führung besonders heikel“, glaubt Analystin Tan. Denn im Herbst will sich der 69-Jährige auf dem Parteitag der Kommunisten in eine dritte Amtszeit wählen lassen – und davor auf keinen Fall als schwach dastehen. Einen Gegenkandidaten gibt es freilich nicht. Nur: Es lief schon einmal besser für Xi.
Führung in Peking steht unter Druck
Noch im März hatte China für 2022 ein Wirtschaftswachstum von 5,5 Prozent vorgegeben. Dass dieses Ziel erreicht wird, ist mehr als unwahrscheinlich. Im letzten Quartal wuchs die Wirtschaft des Landes im Vergleich zum Vorjahr nur noch um 0,4 Prozent. Für das gesamte Jahr erwartet der Internationale Währungsfonds ein Wirtschaftswachstum von nur 3,3 Prozent – es wäre, vom Pandemie-Jahr 2020 abgesehen, der niedrigste Wert seit vier Jahrzehnten.
Für Chinas Kommunisten ist das Versprechen einer florierenden Wirtschaft die Legitimation der eigenen Herrschaft und überlebenswichtig. Hinzu kommt: Während der Rest der Welt langsam lernt, mit dem Coronavirus zu leben, beharrt Peking verbissen auf seiner „Null-Covid-Politik“ und reagiert auf einzelne Ausbrüche mit eiserner Härte. Einer Schätzung der japanischen Nomura-Bank zufolge waren Ende Juli rund 250 Millionen Chinesen von Corona-Beschränkungen betroffen, in vielen Städten gelten Ausgangssperren. Darunter leidet die Produktion, Lieferketten brechen zusammen. Fast jeder fünfte junge Chinese ist ohne Job, Tendenz steigend. Und eine Abkehr von dieser Knallhart-Politik ist nicht in Sicht.
Von einer US-Politikerin vorgeführt zu werden, das kann sich Xi Jinping derzeit nicht leisten. Es dürfte also nur noch eine Frage der Zeit sein, bis Xi reagiert.