München – Manchmal trägt die Revolution Brille, Pullunder und Stoffhosen mit Bügelfalten. Peinlich. Manchmal hat die Revolution zudem Hängeschultern, Pickel und den Ruf, Streber, Bücherwurm und was weiß ich noch alles zu sein. Ziemlich sonderbar, oder? Manchmal beginnt die Revolution also grob uncool.
Dennoch sollte dieser Loser, den all diese Attribute treffend charakterisieren und der Peter Parker heißt, im August 1962 seinen ersten Auftritt im Comic-Heftchen „Amazing Fantasy 15“ haben. Damit wirbelte er (nicht nur) die Welt der bunten Bildgeschichten und das Superhelden-Genre mächtig durcheinander. Peter Parker alias Spider-Man brachte seinen Erfindern viel Geld – und ist bis heute die beliebteste Comic-Figur der Welt. Was für eine Erfolgsgeschichte für einen Außenseiter, der in der Schule zu keiner Party eingeladen wird!
Zwölf US-Cent mussten amerikanische Teenager im Sommer vor 60 Jahren auf den Verkaufstresen zählen, um die Ausgabe „Amazing Fantasy No. 15“ zu bekommen. Als ein Exemplar des nur wenige Seiten starken Magazins im vergangenen Herbst versteigert wurde, wechselte es für 3,6 Millionen US-Dollar (damals etwa drei Millionen Euro) den Besitzer – und ist damit heute das teuerste Comic-Heft der Welt.
Dabei war es ein unternehmerisches und künstlerisches Risiko, das der Autor und Redakteur Stan Lee (1922–2018) und sein Arbeitgeber, der US-Comicverlag Marvel, Anfang der Sechzigerjahre wagten. Superhelden-Geschichten sind das einzige Genre, das die Comic-Kunst aus sich heraus etabliert hat. Damals waren die Helden meist Variationen griechischer, römischer oder germanischer Götter – vor allem aber waren sie nicht von dieser Welt. Superman, ein Abkömmling des Planeten Krypton, markierte 1938 die Geburt des neuen Genres, das nicht zuletzt durch den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg enorm populär wurde. Die Literaturwissenschaft spricht heute von dieser ersten Dekade als dem „Goldenen Zeitalter“, das mit dem Wandel des gesellschaftspolitischen Klimas Anfang der Fünfziger endete.
Durfte „Captain America“ auf dem Titel seines ersten Hefts 1941 noch Hitler die Fresse polieren, fürchtete vor allem das konservative und religiöse Amerika in den Fünfzigerjahren das subversive Potenzial der jungen Kunstform. Als 1954 das Buch „Seduction of the Innocent“ des Psychiaters Fredric Wertham erschien, in dem er Comics als moralisch schädlich anprangerte, war das ein Dammbruch. Die Panikmache der selbst ernannten Tugendwächter um die „Verführung der Unschuldigen“ endete sogar in öffentlichen Comic-Verbrennungen. Die Verlage fürchteten ums Geschäft, reagierten panisch und kunstfeindlich – mit einer im „Comic Code“ niedergeschriebenen Selbstzensur. Eine Bankrotterklärung. Die Qualität der Publikationen ließ nach.
Für die Superhelden interessierten sich zu diesem Zeitpunkt auch aus einem anderen Grund immer weniger Jugendliche: Die Geschichten waren einfach zu erwartbar. Wie soll schließlich spannend bleiben, wenn klar ist, dass die Protagonisten unsterblich sind und immer siegen? Superman, Batman (der kein Superheld ist, siehe Randspalte), Wonder Woman und Green Lantern, die alle beim Verlagsriesen DC erschienen, hatten damals herzlich wenig mit dem Leben der meist männlichen Leser zu tun. Die Verkaufszahlen brachen also noch weiter ein.
Anfang der Sechzigerjahre – als sich die Hysterie um den angeblichen „Schund“ etwas legte und sich die Hippie-Ära am Horizont abzeichnete – versuchten die Verantwortlichen, das Genre wiederzubeleben. Zunächst mit Superhelden-Teams. Begonnen hat dieser Neustart auf einem Golfplatz: Martin Goodman, Verleger von Timely Publications, hatte nämlich auf dem Grün von seinem DC-Konkurrenten gehört, dass sich deren Superhelden-Mannschaft, die „Justice League of America“, recht gut verkauft. Also beauftragte er seinen Chefredakteur Stan Lee, ein eigenes Team an den Start zu bringen. Lee kreierte mit Zeichner Jack Kirby die „Fantastic Four“, und mit diesen vier Fantastischen begann 1961 die Ära des neuen Verlags Marvel, der aus Timely Publications hervorging.
Sein Meisterstück glückte Lee jedoch ein Jahr später mit Zeichner Steve Ditko (1927–2018): Spider-Man. Bis heute gilt, dass Marvel-Figuren einfach näher dran sind am Leben der Zielgruppe. Wer kann sich schon den geschleckten Superman mit Dreitagebart, Augenringen und Schweiß vorstellen – wie etwa Marvel-Held Iron Man? Oder versuchen Sie doch mal, an den „Mann aus Stahl“ zu denken, wie er mit Nadel und Garn seinen Anzug nach einem Einsatz flickt? Sehen Sie: Es funktioniert nicht! Von Spider-Man indes gibt es genau solche Bilder.
Er stand am Beginn dieser Entwicklung bei Marvel, denn Peter Parker ist absoluter Durchschnitt, ein Bursche von nebenan. Keine andere Superheldenserie nahm damals so stark Bezug auf den Alltag ihrer Leser. Parker ist ein Außenseiter an seiner Schule, er ist finanziell genauso klamm und bei Mädchen ebenso schüchtern und verklemmt wie die Jungs, die diese Geschichten lesen sollten. Und das taten sie. Spider-Man wurde beliebt – Marvel erkannte sein Potenzial und gab dem Helden im Spinnendress von März 1963 an eine eigene Heftreihe.
Seine Fähigkeiten hat der schmächtige Peter, der als Waise von Onkel und Tante großgezogen wird, übrigens seinem Wissensdurst zu verdanken: Bei einem Vortrag über „Radioaktivität in der Forschung“ (Gähn!), den der Strebsame besucht, wird er zufällig von einer radioaktiv verseuchten Spinne gebissen. Fortan entwickelt er jene Fähigkeiten, die eine Spinne in seiner Größe hätte. Das jedoch ist verbunden mit einer Macht und Verantwortung, die den Schüler Peter Parker mitunter verunsichert und überfordert.
Damit aber glückten Stan Lee zwei wichtige Neuerungen. Zum einen machte er einen Jugendlichen zum Helden – und welcher Jugendliche träumt nicht davon, ein solcher zu sein? Ob in den USA oder in Deutschland, wo die Comics ab Mitte der Sechzigerjahre zunächst in loser Folge als „Die Spinne“ erschienen. Zum anderen erzählte Lee von den Sorgen und Nöten, die mit der wachsenden Verantwortung fürs eigene Tun einhergehen. Letztlich sind Geschichten mit Spider-Man also Geschichten übers Erwachsenwerden. Das war bahnbrechend für das Genre. Kein Wunder also, dass Lee als „einer der profiliertesten Erzähler Amerikas“ gefeiert wurde, als er 2008 mit der „National Medal of Arts“ geehrt wurde, der höchsten Kunstauszeichnung der US-Regierung. Ans Jubiläum zum 60. seiner Schöpfung wird indes nicht nur in den USA erinnert. Bei uns ehrt sogar die Post Spider-Man mit einer Sondermarke. Der Erfolg dieses Außenseiters bleibt eben kleben.