Heute noch Priester werden? „Jetzt erst recht!“

von Redaktion

VON CLAUDIA MÖLLERS

Ampermoching – Kurzarmhemd, Baumwoll-Chino, schwarze Adidas-Sneaker: Mit seinem adretten Haarschnitt und der dünnen Hornbrille verkörpert Christian Ulbrich den Typ Jung-Manager. War er auch mal. Doch der 30-Jährige hat eine totale Kehrtwende in seinem Leben vollzogen. Er wird katholischer Priester. In einem Jahr wird er mit zwei anderen Diakonen von Kardinal Reinhard Marx geweiht.

Priester werden? Jetzt? In einer katholischen Kirche Dienst tun, die seit 2010 mit dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals in Deutschland derart an Glaubwürdigkeit und Vertrauen eingebüßt hat, dass die Menschen in Scharen davonlaufen? Das musste er nicht nur seinen Eltern und Freunden erklären.

Eigentlich will Ulbrich Karriere machen

Ulbrich ist hin- und hergerissen. Natürlich will er erzählen von seinem Weg. Er ist ein aufgeschlossener junger Mann, der zu seiner inzwischen fast exotischen Berufswahl steht. Der aber auch weiß, wie aufgeladen derzeit die Stimmung in der und gegen die katholische Kirche ist. „Jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt“, sagt er. Aber er erzählt. Vielleicht, weil Glauben ja gerade auch Bekennen bedeutet.

Es ist keine klassische Berufungsgeschichte. Aufgewachsen ist Ulbrich mit einer fünf Jahre jüngeren Schwester im mittelfränkischen Höchstadt an der Aisch. Die Mutter ist Lektorin und Kommunionhelferin. Ein normal katholisches Umfeld, nennt das der 30-Jährige. Man geht sonntags zur Kirche, die Schwester ist Ministrantin. Eine von gut 100 in der Pfarrei. „Ich habe bewusst nach der Kommunion nicht ministrieren wollen. Ich wollt’s nicht“, sagt er mit Nachdruck. Der Jugendliche geht irgendwann auch nicht mehr mit zum Gottesdienst. „Ich war ziemlich weit weg von der Kirche.“

Ausgerechnet die Ministranten holen Christian in die Kirche zurück. Als er 15 Jahre alt ist, gibt es eine Ministranten-Fahrt nach Rom. Die Schwester ist dabei, die Eltern fahren als Betreuer mit: „Komm, fahr doch auch mit“, heißt es. Das Ziel scheint spannend – trotzdem zweifelt Christian: „Ich hab schon befürchtet, dass mich das in eine gewisse Verbindlichkeit bringen könnte. Und das wollte ich ja nicht.“ Er fährt doch mit – und seine „Befürchtung“ bewahrheitet sich. Christian trifft viele alte Kindergarten- und Schulkameraden wieder. „Nach dieser Fahrt war ich willkommen geheißen als neuer Ministrant“, sagt er mit einem Lachen.

Christian Ulbrich hat damals auch eine feste Freundin. Sechs Jahre ist er mit ihr zusammen. Die Familien verstehen sich gut. Eine spätere Hochzeit habe im Raum gestanden. „Das Thema Priesterberufung war damals für mich nie eine Option.“ Doch nach dem Abitur zerbricht die Beziehung. Es beginnt ein neues Kapitel. Christian will in die Wirtschaft gehen. „Voller Elan habe ich dann bei Siemens ein duales Studium begonnen.“ In Nürnberg studiert er Wirtschaftswissenschaften, bei Siemens lernt er Industriekaufmann. Parallel dazu ist er weiter in der Kirchengemeinde aktiv – im Pfarrgemeinderat und in der Kirchenverwaltung.

Damals will er Karriere machen und richtig Geld verdienen. In der Abi-Zeitung gibt es eine Frage unter Mitschülern: „Wer wird als Erster Millionär?“ Ulbrich erinnert sich und lacht: „Da stand ich auf Platz 1. Damals war ich stolz, jetzt sehe ich es etwas kritisch.“

Nach der Ausbildung bei Siemens sollte es eine Stelle im Bereich „Private Equity“ werden. Er will bei einer Gesellschaft arbeiten, die in andere Unternehmen investiert. „Heuschrecken“ hatte der frühere Bundesfinanzminister Franz Müntefering (SPD) diese Firmen genannt.

Doch dann gibt es zwei Erlebnisse, die Ulbrich nach und nach einen alternativen Lebensweg aufzeigen. Im Internet stößt er zufällig auf die „Einführung ins Christentum“, Joseph Ratzingers Vorlesungen aus dessen Tübinger Zeit 1967. „Die ersten Seiten waren da zu lesen und da hat es mich gepackt. Ich habe dadurch entdeckt, wie viel im Glauben steckt. Da hat sich für mich eine andere Welt geöffnet.“ Noch ist Ulbrich auf dem Wirtschaftstrip, aber auf einmal kommen Fragen auf: „Wie zeigt sich Glauben im eigenen Leben? Glaube ist mehr als Lebensbewältigung. Wer das verstanden hat, den drängt es auch zu den anderen.“ Glauben braucht Gemeinschaft, erkennt er. In jenem Sommer 2014 „hat mich der liebe Gott gepackt“.

Glaubenserfahrung auf einer Kreuzfahrt

Ulbrich macht eine intensive Glaubenserfahrung auf einer Kreuzfahrt mit der Familie. Fast etwas scheu ringt er nach den richtigen Worten, um zu beschreiben, was er an einem der vielen Seetage mit dem Blick aufs Meer erlebt hat. „Ich habe erfahren, dass Gott da ist und mich unendlich liebt. Das klingt total banal…“ Fast schon zu romantisch. „Ich habe damit erst gar nicht umgehen können. Was ist da geschehen?“ – das Erlebnis verwirrt ihn. Doch langsam erkennt er: So geht es nicht weiter mit seinem Leben. Ulbrich beginnt in der Bibel zu lesen. Irgendwann wird ihm klar: „Oje, der ruft mich ganz.“ Er habe sich intensiv dagegen gewehrt. Priestertum? Gott nahe sein? Lange kommt er zu keiner Entscheidung. Karriere und Familie sind damals ebenso auf dem Schirm.

Im Herbst 2014 stellt er sich bei seiner Münchner Traumfirma vor. Wenige Stunden später am selben Tag sitzt er beim Leiter des Münchner Priesterseminars. Ulbrich muss mit jemandem reden. Es ist ein intensives Gespräch mit Regens Wolfgang Lehner. „Als ich da rausgegangen bin, habe ich innerlich zum ersten Mal gewusst: Ich glaube, das ist mein Platz hier.“

Das schwerste Gespräch aber sollte noch folgen – mit den Eltern. Viel will Ulbrich dazu nicht sagen. Nur so viel: Es habe ihn herausgefordert und mit der Frage konfrontiert, ob er bereit ist, solchen Widerstand auf sich zu nehmen. Mit den Eltern vereinbart er, erst die Stelle in München anzutreten.

Ulbrich zieht im Frühjahr 2015 nach München und arbeitet bei dem Private-Equity-Unternehmen. „War eine ganz tolle Zeit. So hatte ich es mir immer vorgestellt.“ Aber nach fünf Monaten weiß er: „Es ist jetzt nicht das Letzte, das mich erfüllt. Das ist nicht mehr mein Ort.“ Im September 2015 tritt Christian Ulbrich ins Priesterseminar ein. Der Firmenchef respektiert die Kündigung, ist sogar am 4. Juni 2022 bei der Diakonenweihe dabei.

Hat ihn das Versagen der Institution Kirche im Missbrauchsskandal nicht abgeschreckt? Aktuell findet Ulbrich es fast noch schlimmer als 2015. Natürlich beschäftige ihn der Skandal. Natürlich werde er immer wieder gefragt: „Wie kannst Du da noch hin?“ Seine Antwort: „Ja, ich weiß. Aber auch gerade deshalb.“ Er habe so viel Kostbares in der Kirche erfahren. Abwenden ist für ihn deshalb keine Option. „Wenn das alle so machen, was bleibt dann übrig?“

Der 30-Jährige verschließt nicht die Augen vor dem Skandal, spricht von Wut und Erschütterung. Aber er differenziert: „Je näher ich der Kirche komme, desto mehr Dreck sehe ich. Aber auch gleichzeitig so viel Schönes.“ Die Volkskirche löse sich auf. Das findet er schmerzhaft. Es sei nötig, dass die Kirche sich erneuere. Dass im Synodalen Weg auch die Frage aufgeworfen wurde, ob es das Priesteramt heute noch braucht, das verletzt ihn: „Hier geht es um die Fundamente.“

Frauen als Priester? Das löse die Probleme nicht

Und das Priesteramt für Frauen? Da wird Ulbrich etwas einsilbig. Mit dem Priestertum der Frau seien viele andere Probleme nicht gelöst: Dass keiner mehr in religiösen Fragen sprachfähig sei, Glaubenswissen verloren gehe. Das Schöne in der Kirche sind für ihn die Menschen, die in tiefen Krisen durch den Glauben Halt finden. Da könne er helfen, sie zu bestärken. Oder wenn er Ministranten etwas mitgeben kann auf ihrem Lebensweg. Wenn er selber tiefer vorstößt in Glaubensfragen.

Als Diakon absolviert Christian Ulbrich zur Zeit seinen Pastoralkurs im Pfarrverband Röhrmoos-Hebertshausen im Kreis Dachau. Er darf taufen, Trauungen und Beerdigungen leiten, Wortgottesdienste feiern und segnen – und lernt, wie das Leben im Pfarrhaus läuft. Am 1. Juli 2023 wird Kardinal Reinhard Marx ihn zum Priester weihen. Wo seine erste Kaplanstelle sein wird, das weiß er noch nicht.

Ulbrich wohnt im Franziskuswerk Schönbrunn in Röhrmoos, einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Zusammen mit den beiden Diakonen, die mit ihm am 4. Juni von Kardinal Marx geweiht worden sind. Es ist eine Neuerung im Erzbistum München und Freising: Die drei sollen auf Dauer zusammen wohnen als Kommunität, damit sie nicht vereinsamen. „Das ist einer der Wege, wie der Zölibat gut gelebt werden kann. Die Einsamkeit ist ja auch eine schwierige Sache.“ In Gemeinschaft zu leben in dieser schwierigen Lage der Kirche, gemeinsam zu beten, sich zu bestärken, das findet Ulbrich gut. Auch ein Korrektiv sei manchmal wichtig. Einordnen lassen in die Kategorien traditionell oder reformorientiert will sich der zukünftige Priester nicht: „Ich bin nicht konservativ und nicht liberal – ich bin katholisch!“

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