Kabul – Für die Taliban ist der 15. August jetzt auch offiziell ein Feiertag – der „erste Jahrestag des Sieges des vom Islamischen Emirat Afghanistan angeführten afghanischen Dschihad über die amerikanische Besatzung und ihre Verbündeten“, wie die Taliban am Sonntag der Welt mitteilten. Für viele andere im Land ist der Tag ein Symbol ihrer erneuten Unterdrückung.
Als die Taliban am 15. August 2021 zurückkehrten, war die Hoffnung, ihre zweite Herrschaft möge liberaler sein, nicht besonders groß. Und doch klammerte sich die Welt an die Versprechen der neuen Regierung, die Rechte von Minderheiten und Frauen zu achten, ehemaligen Sicherheitskräften, Soldaten und Beamten Amnestie zu erteilen, Bildung zu gewähren, Frieden zu schaffen. Ein Jahr später haben sich alle Hoffnungen als Illusion erwiesen. Es ist ein Rückfall in die Zeiten ihrer ersten Herrschaft von 1996 bis 2001.
Ende der Frauenrechte
Der jüngste Bericht der UN-Mission „Unama“ listet außergerichtliche Hinrichtungen ehemaliger Sicherheitskräfte, Folter, willkürliche Festnahmen, Verfolgung von Journalisten und eine lange Liste von Gewalt gegen Frauen auf, darunter Vergewaltigung, Mord, Zwangsheirat, Kinderehen, Körperverletzung. Für Aktivistinnen, so Amnesty International, sei das Leben unter den Taliban der „Tod in Zeitlupe“.
Mädchen dürfen meist nur noch sechs Jahre zur Schule gehen, Frauen nicht mehr physisch an ihrem Arbeitsplatz präsent sein – sofern sie nicht entlassen wurden. Es gilt ein Verhüllungsgebot, Frauen dürfen nur noch in Begleitung eines männlichen Verwandten das Haus verlassen. Vom gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben sind sie so gut wie ausgeschlossen. Frauen, die es dennoch wagen, zu demonstrieren, werden eingeschüchtert, verhaftet oder verschwinden.
Die junge Richterin Amina (Name geändert) erlebte von 2001 bis 2021 ein Afghanistan der Öffnung. Vor der US-geführten Militärinvasion war eine Karriere im Justizwesen für sie undenkbar. Und sie erlebte den radikalen Bruch im Sommer 2021. „Ich kann immer noch nicht fassen, wo wir gelandet sind. Wir haben jahrelang studiert, wir haben hart gearbeitet.“
Nafisa, 20, will Ärztin werden. Da sie offiziell nicht mehr lernen darf, besucht sie eine geheime Schule und versteckt ihre Schulbücher zuhause in der Küche. Nafisa lebt in einem Dorf im Osten Afghanistans – und hat den Feind direkt daheim. „Wenn mein Bruder das herausfindet, schlägt er mich“, sagt sie. Er hat jahrelang für die Taliban gekämpft. „Aber Jungen haben nichts in der Küche verloren, deshalb hebe ich meine Bücher hier auf.“ Nur ihre Mutter und ihre Schwester wissen Bescheid.
Wirtschaft auf Talfahrt
Geheime Schulen in Privathäusern gibt es überall im Land. Progressivere Taliban dulden sie teilweise, denn Ärztinnen oder Krankenschwestern kann das Land gut brauchen. Frauenhäuser, Beschwerdestellen für Opfer sexueller und häuslicher Gewalt wurden hingegen ersatzlos geschlossen. Statt eines Frauenministeriums gibt es nun das Ministerium für Gebet, Tugend und Verhinderung von Laster. Dessen Sittenwächter prügeln Frauen und Männer, deren Aussehen sie nicht tugendhaft finden.
Auch wirtschaftlich ist Afghanistan auf Talfahrt. Die Staatskasse – zuvor von ausländischen Gebern gefüllt – ist leer, die Reserven der afghanischen Zentralbank sind in den USA eingefroren. Glaubt man den Zahlen der Hilfsorganisationen, leiden 50 Prozent der Afghanen an Hunger, vor allem Kinder. Auch der Ausschluss von Mädchen aus der Schulbildung hat wirtschaftliche Folgen, weil sie kaum noch qualifizierte Jobs ausfüllen dürfen.
„Ich kenne Afghanistan schon lange. Aber so ein Elend habe ich nie erlebt“, sagt Stefan Recker, Landesrepräsentant von Caritas International in Afghanistan. Die Wirtschaft und das Bankwesen seien wegen der ausländischen Sanktionen zusammengebrochen. „Obendrein leidet das Land unter dem Klimawandel, es herrscht Dürre. Sehr viele Menschen haben überhaupt kein Einkommen“, berichtet Recker. „Die Leute verhungern zwar nicht, aber viele sterben an hungerbedingten Krankheiten.“
Das Haqqani-Netzwerk
Auch das Versprechen, den Terrorismus zu besiegen – Hauptgrund für das Friedensabkommen der USA mit den Islamisten – hielten die Taliban nicht. Dass der Terror weiter präsent ist, zeigt der jüngste Anschlag des regionalen Zweigs des „Islamischen Staates Khorasan“ (IS-K) am 30. Juli während eines Cricket-Spiels mit zwei Toten und 13 Verletzten. Auch für weitere Anschläge ist der IS-K verantwortlich. In dem einen Jahr Taliban-Herrschaft starben laut den Vereinten Nationen 700 Zivilisten, 1406 wurden verletzt. Verbunden geblieben sind die Taliban auch dem Terror-Netzwerk Al-Kaida. Die Verbindung läuft über den De-Facto-Innenminister Siradschuddin Haqqani.
Das Haqqani-Netzwerk hat innerhalb der Taliban-Regierung die Macht, wird für viele Terroranschläge verantwortlich gemacht. Die Haqqanis sind es auch, die eine Gesellschaft nach der Scharia wollen. Für Afghanistan sieht es düster aus, Widerstand gibt es nur regional. Wie groß der Rückhalt unter den Paschtunen ist, der größten Ethnie, aus der sich die Taliban überwiegend rekrutieren, sei schwer zu sagen, sagt Recker. „Die Taliban werden sich erst einmal halten“, glaubt er. „Die Frage ist, ob sie ihre radikalislamische Ideologie dauerhaft durchsetzen können.“