Russland laufen die Talente weg

von Redaktion

Wegen des Ukraine-Kriegs verlassen vor allem IT-Spezialisten das Land – eine Chance auch für Deutschland?

München – Der Krieg gegen die Ukraine dauerte gerade ein paar Tage, da konnte sich Michail W. schon nicht mehr auf seine Arbeit konzentrieren. „Überall war das Z-Symbol“, erzählt der Russe aus Sankt Petersburg, „auf den Straßen, im Supermarkt, in der Bahn. Überall wurden wir daran erinnert, dass wir nicht frei sind.“ Ein paar Wochen später, am 14. April, verließ Michail W. Russland.

Der Programmierer lebt jetzt mit seiner Frau in Griechenland, Thessaloniki. Und er ist bereit, mit unserer Zeitung zu reden. „Es war frustrierend zu wissen, dass wir uns im Krieg befinden – aber der Alltag in Russland ging ganz normal weiter“, sagt der 37-Jährige am Telefon. Er habe das Leben in Sankt Petersburg nicht mehr ausgehalten. „Als IT-Spezialist willst du in einer modernen Welt leben und die Zukunft vorantreiben. Dann kannst du es nicht akzeptieren, in einem Land zu leben, das so einen Rückschritt macht, in dem deine Meinung unterdrückt wird.“

Michail W. hat Glück: Für seinen Arbeitgeber – ein europäischer Konzern – darf er auch von Thessaloniki aus arbeiten. Als Programmierer geht das ganz gut. Viele seiner Kollegen hätten Russland ebenfalls verlassen, erzählt er. Es ist eine regelrechte Auswanderungswelle, die Experten auch „Brain-Drain“ – Talentabwanderung – nennen.

Schätzungen zufolge haben seit Kriegsbeginn mehr als 100 000 Russen ihre Heimat verlassen. Forscher, Journalisten, Künstler – und vor allem Fachkräfte aus der IT-Branche. Laut dem russischen Technologieverband RAEC (Russian Association for Electronic Communications) haben allein bis April 50 000 bis 70 000 IT-Spezialisten Russland den Rücken gekehrt. Und das könnte erst der Anfang sein. Der Verband rechnet mit bis zu 100 000 weiteren Fachkräften in einer zweiten Welle. Alles, was sie bislang noch in Russland halte, seien teure Flugtickets, hohe Immobilienpreise im Ausland und die Angst, dort nicht willkommen zu sein.

In Deutschland haben bereits einige Unternehmen signalisiert, dass sie russische IT-Kräfte willkommen heißen. Die Deutsche Bank hat im Juni mehrere hundert Programmierer aus Moskau und Sankt Petersburg nach Berlin geholt, die zuvor im russischen Technologie-Zentrum der Bank arbeiteten. Die Bank hatte allen 1500 Mitarbeitern des Technologie-Zentrums eine Stelle in Deutschland angeboten. Mehr als die Hälfte hat das Angebot angekommen. Sie sind für das Geldhaus unverzichtbar – die russischen Spezialisten machen etwa zehn Prozent der gesamten IT-Mannschaft der Deutschen Bank aus.

Auch die Deutsche Telekom hat ihren Beschäftigten in Russland – fast 2000 Software-Entwickler – Ausweichmöglichkeiten an Standorten außerhalb Russlands angeboten. Ende März hatte der Telekommunikationskonzern all seine Aktivitäten in Russland eingestellt. Für die Mitarbeiter werden gerade verschiedene Stellen in ganz Europa gesucht, auch in Deutschland. Offiziell heißt es von der Telekom: „Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen. Wir haben uns entschieden, keine Zwischenstände zu kommunizieren. Nur so viel: Das Angebot wird gut angenommen.“

Technologie-Konzerne wie Samsung, Google, Microsoft, Dell und Apple, SAP und Intel haben sich ebenfalls aus Russland zurückgezogen. Der deutsche Software-Riese SAP hat gut 200 russische Mitarbeiter an Standorte im benachbarten Ausland geholt. Vom US-Chiphersteller Intel heißt es, man arbeite daran, die 1200 russischen Mitarbeiter zu unterstützen.

Für Wladimir Putin könnte der „Brain Drain“ zum ernsten Problem werden. Der russische Präsident hatte bereits Anfang März Versuche unternommen, seine klügsten Köpfe im Land zu halten. Fachkräfte aus der Technologie-Branche im wehrpflichtigen Alter bis zu 27 Jahren wurden vom Militärdienst befreit. Zudem ließ Putin Subventionspakete für die Branche schnüren: Wer dem Land treu bleibt, könne sich für günstige Kredite und einige Stipendien bewerben. IT-Unternehmen würden drei Jahre lang von der Gewinnsteuer ausgenommen. Die Sberbank, Russlands größte Bank, sowie der Gasriese Gazprom lockten mit saftigen Gehaltserhöhungen. Trotzdem zeichnet sich ein Fachkräftemangel ab: Die russische Nachrichtenagentur „Tass“ berichtete zuletzt sogar über Pläne, Gefängnisinsassen mit IT-Kenntnissen in Tech-Konzernen zu beschäftigen.

Für Deutschland eröffnet sich nun die Chance, Lücken zu schließen: 96 000 freie IT-Stellen gibt es laut dem Digitalverband Bitkom hierzulande. „Das könnte eine Win-Win-Situation sein“, sagt Markus Scheufele von Bitkom. „Diejenigen, die den russischen Angriffskrieg nicht unterstützen wollen, könnten in Deutschland Fuß fassen – und wir könnten unsere Digitalisierung vorantreiben.“

Der Verband fordert deshalb eine „Green Card“, die speziell IT-Experten aus Russland und Belarus ein beschleunigtes Visa-Verfahren und eine unbürokratische Arbeitserlaubnis verschaffen soll. „Wir haben festgestellt, dass viele russische Fachkräfte das Land aus politischen Gründen verlassen haben. Die meisten halten sich aber noch in den russischen Nachbarländern oder in der Türkei auf, weil es nicht gerade einfach ist, in Deutschland an Arbeit zu kommen“, sagt Scheufele. Die Politik müsse diese Möglichkeit nutzen – zumal Russland durch den Fachkräftemangel erheblich geschwächt werden könne.

Das Bundeswirtschaftsministerium ist nicht ganz untätig. Bereits im April gründete es die Taskforce „Russische Fachkräfte“. Ziel sei es, „die Einwanderung und mögliche Anwerbung von russischen Fachkräften nach Deutschland zu unterstützen“. Insbesondere sollen deutsche Firmen die Chance haben, russische Fachkräfte aus ihren aufgegebenen russischen Standorten zu übernehmen.

Auch Vasilisa, 30, (Name geändert) würde gern in Deutschland arbeiten. Die IT-Spezialistin hat jahrelang in der Nähe von Dortmund gelebt und spricht fließend Deutsch. „Es ist offenbar nicht ganz einfach, in Deutschland zu arbeiten“, sagt die Russin aus Sankt Petersburg. Obwohl ihr Arbeitgeber seinen Hauptsitz in Deutschland hat, wurde sie erst mal zwei Monate lang in einem Luxushotel im türkischen Antalya untergebracht. Eine Übergangslösung: Die Türkei gehört zu den wenigen Ländern, die nicht die Flugverbindungen zu Russland gekappt haben.

Mittlerweile lebt auch Vasilisa in Griechenland. Hier bekam sie leichter eine Arbeitserlaubnis. Wie lange sie dort bleibt, weiß sie noch nicht. Zurück nach Russland will sie nicht. „Als der Krieg ausgebrochen ist, musste ich gar nicht groß überlegen“, erzählt sie. „Die Angst war groß, dass die Grenzen Russlands komplett geschlossen werden.“ Wer frei sein wolle, sagt Vasilisa, „nutzt jede Gelegenheit, um das Land zu verlassen“. KATHRIN BRAUN

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