„Die Gurke darf so krumm sein, wie sie will“

von Redaktion

INTERVIEW Ökonom Knut Blind erklärt, warum Normen keine Innovationsbremse sind, sondern Verbrauchern nutzen

München/Berlin – Zu viele Normen hemmen Innovation, sollte man denken. Doch so einfach ist es nicht, sagt der Ökonom Knut Blind vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung und der TU Berlin.

Herr Blind, in Deutschland gibt es rund 35 000 DIN-Normen. Sind das nicht viel zu viele?

Ich glaube nicht. Die Wirtschaft differenziert sich immer weiter aus und deshalb betreffen die Normen auch immer mehr Lebensbereiche. Alle fünf Jahre wird aber geprüft, ob es Anpassungsbedarf bei einer Norm gibt oder sie ganz gestrichen werden kann. Das wird auch getan.

Der Eindruck, dass unser Leben immer stärker normiert wird, ist also falsch?

Der Eindruck ist falsch. Es gibt auch anders als manchmal vermutet keine Norm zur Gurkenkrümmung. Vor 30 Jahren hatte die EU mal eine Verordnung zu Salatgurken verfasst, die ist aber längst wieder abgeschafft. Für Verbraucher sind Normen eine gute Sache, weil man sich zum Beispiel darauf verlassen kann, dass DIN-A4-Papier in jeden Drucker passt. Auch für die Wirtschaft ist eine Norm eher ein Bekenntnis auf einen gemeinsamen Standard als ein Hemmschuh. Innovation bremst sie jedenfalls nicht aus. Schon allein, weil man eine Norm als Unternehmer nicht umsetzen muss, wenn sie einem nicht passt oder man etwas Besseres entwickeln will.

Wie muss eine Norm sein, damit sie anerkannt wird?

Die Industrie und weitere Interessensvertreter sollten sich darauf geeinigt haben. Das ist in der Regel auch der Fall. Denn zur Erstellung einer Norm sind alle relevanten Firmen, Forscher und Verbände eingeladen. Und die Norm sollte so verständlich sein, dass man nicht zusätzliche Dokumente wälzen muss, um sie umsetzen zu können.

Gerade ist Urlaubszeit und überall in Europa gibt es verschiedene Steckdosen. Wieso hat man sich hier auf keine Norm geeinigt?

Als die Steckdosen in den einzelnen Ländern genormt wurden, wurde noch nicht so viel gereist wie heute und man hatte auch nicht dauernd Elektrogeräte dabei. Deshalb hat heute jedes Land eine andere Steckdose. Adapter mit sich rumzuschleppen ist nun das kleinere Übel, die Steckdosen zu tauschen wäre viel aufwendiger. Daraus hat man aber gelernt. Damit man problemlos in anderen Ländern laden kann, hat man sich europaweit auf einen Stecker für Elektroautos geeinigt. Das war gar nicht einfach, denn Deutschland hat einen anderen Typ favorisiert als Frankreich. Deutschland hat sich hier am Ende durchgesetzt.

Kommt es bei Normen auch auf den Zeitpunkt der Einführung an?

Gutes Timing ist jedenfalls sehr wichtig. Setzt man einen Standard zu früh, beendet man damit vielleicht auch vorzeitig die Konkurrenz um bessere Alternativen und einigt sich auf einen nicht optimalen Standard. Kommt die Norm zu spät, hält womöglich jeder an seinem dann schon etablierten System fest. Man kann eine Norm aber auch so formulieren, dass sie offen für Entwicklung ist. Der Mobilfunkstandard ist ein Beispiel. Er wird dauernd fortgeschrieben, von 1G bis 5G. Wäre das nicht so, würden wir noch mit unseren alten Handys hier sitzen und hätten zum Beispiel keine Apps.

Apple hatte immer andere Ladekabel als andere Hersteller. Setzen Konzerne ihre eigenen Standards?

Die großen US-Technologiekonzerne wie Apple gingen in der Vergangenheit schon oft ihren eigenen Weg. Apple hat mit seinen nur bei Apple-Geräten passenden Ladekabeln auch ein gutes Geschäft gemacht. Nun hat die EU USB-C als Standard festgesetzt. Es ist das erste Mal, dass der Gesetzgeber den Herstellern eine Vorgabe macht, weil diese sich nicht auf einen gemeinsamen Standard einigen. Vielleicht stärkt das die Erkenntnis, dass es besser ist, sich am Normverfahren zu beteiligen und es so mitbeeinflussen zu können.

Wie schafft man es, dass Normen aktuell bleiben?

Wie gesagt: Jede Norm wird alle fünf Jahre überprüft. Außerdem versucht man, nah an der Forschung zu bleiben. Im Prozess sind alle großen Spieler eingeladen, sich mit an den Tisch zu setzen. Beim Mobilfunk sind das etwa Firmen wie Huawei oder Nokia. Aber keine Frage: In dynamischen und komplexen Bereichen wie Künstliche Intelligenz oder Blockchain ist es schwierig, mit der Technik Schritt zu halten.

Früher kamen sehr viele Normen aus Deutschland und der EU. Heute ist China international sehr aktiv. Birgt das auch Gefahren?

In der internationalen Normierung ist China tatsächlich sehr aktiv, etwa beim Mobilfunk. Hier spielt Deutschland so gut wie keine Rolle mehr. China versucht, sich Vorteile zu verschaffen, indem es sehr eng gefasste Normen forciert, die nah an der eigenen Technologie sind. Das hat man in der EU gemerkt – und versucht gegenzusteuern.

Wie denn?

Indem man sich nicht nur darauf konzentriert, die Patente für eine Technologie zu sichern, sondern sich auch proaktiv an der internationalen Normung beteiligt. Dort muss man Präsenz zeigen und für seine Technologien und auch für seine Werte eintreten. Das kann mitunter aber mit sehr viel Arbeit verbunden sein. Ich war neulich auf einer Videokonferenz zu einer internationalen ISO-Norm zur Bekämpfung des Klimawandels. Da saßen rund 250 Parteien, die alle an der neuen Norm mitschreiben wollten.

Interview: Andreas Höß

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