Ein Leben im Kriegszustand

von Redaktion

Literatur-Dozentin Olena Bezhan über den Alltag in der Ukraine – sechs Monate nach dem russischen Überfall

Olena Bezhan ist 39 Jahre alt und Literatur-Dozentin an der Nationalen I.-I.-Metschnikow-Universität in der ukrainischen Hafenstadt Odessa. Hier berichtet sie über ihren Alltag in Kriegszeiten und erklärt, warum sie ihr Land trotz der ständigen Bedrohung nicht verlässt.

„Als vor sechs Monaten die ersten Bomben fielen, habe ich mich mit meinem sechsjährigen Sohn Kyrylo aufs Land zurückgezogen. Jetzt leben wir bei meinen Eltern im Dorf Savran, etwa 300 Kilometer nördlich von Odessa. Hier wird zum Glück nicht geschossen, deswegen kommen viele Flüchtlinge ins Dorf. Das Wichtigste ist: Mein Sohn ist hier sicher. Zurück in meine Wohnung in Odessa im neunten Stock eines Studentenwohnheims will ich nicht. Odessa wird ständig beschossen, das ist zu gefährlich für mein Kind.

Seit Kriegsbeginn hat sich die Situation in unserem Dorf wieder leicht verbessert. Die Geschäfte sind geöffnet, es gibt keinen Mangel an Lebensmitteln. Kinder können auf den Spielplatz gehen. Restaurants sind aber weiterhin geschlossen, nur kleine Cafés haben geöffnet. Gerade sind Sommerferien, ich verbringe viel Zeit mit meinem Sohn, wir spielen zu Hause, lernen Buchstaben, spielen Ball.

In meinem Dorf ist der Zusammenhalt groß. Obwohl hier nur etwa 6000 Menschen leben, gibt es vier Freiwilligenzentren. Die Menschen kochen Essen für Flüchtlinge und die Verteidigungskräfte, fast alle Einwohner engagieren sich ehrenamtlich.

Als der Krieg begann, schloss meine Universität für zwei Wochen. Doch nach der ersten Panik unterrichteten wir wieder online. Der Großteil meiner Studenten ist weiter im Land, einige nehmen aber auch aus dem Ausland an den Kursen teil. Die Studenten geben sich gegenseitig Halt, viele mussten ihre Heimatorte verlassen. Am Ende der Kurse sprechen wir uns gegenseitig Mut zu. Immer wieder sind in den Videokonferenzen im Hintergrund Fliegeralarme zu hören. Dann sage ich den Studenten: ,Verlasst den Unterricht, geht an einen sicheren Ort. Euer Leben ist kostbarer als alles andere.‘ Ich halte es für wichtig, den Unterricht aufrechtzuerhalten. Das Studium lenkt vom Krieg ab. In der Welt der Literatur können wir den Kämpfen für eine Weile entfliehen.

Für uns hat der Krieg schon 2014 mit der Annexion der Krim und den Kämpfen im Donbass begonnen. Mein Bruder ist Major der ukrainischen Streitkräfte. Er wurde damals mit seiner Einheit als einer der Ersten an die Front geschickt. Im Kampf verlor er ein Auge, Splitter einer Mine stecken noch immer in seinem Hals. Aber er dient weiter, die Armee ist sein Leben. Wir kommunizieren täglich und ich weiß, dass die Gefahr weiter groß ist, auch wenn er mir nicht verraten darf, wo er sich gerade aufhält.

Mein Mann lebt und arbeitet in Kanada. Wir haben ihn seit einem Jahr nicht gesehen und vermissen ihn sehr, aber trotzdem kann und will ich nicht ins Ausland gehen. Mein Sohn hat eine verzögerte Sprachentwicklung, er spricht immer noch nicht sehr gut und ist deswegen in neuropsychologischer Behandlung. Dafür braucht er Ukrainisch sprechende Lehrer. Außerdem brauchen mich meine Eltern hier – und auch meine Studenten. Bald beginnt das akademische Jahr wieder, dann muss ich die richtigen Worte für sie finden. Es ist paradox: Vor dem Krieg träumte ich davon, die Welt zu sehen und ein schönes, anderes Leben zu führen. Jetzt, im Kriegszustand, fühle ich mich mit meinem Land verbundener denn je.

Die Stimmung in der Ukraine hat sich aber geändert. In den ersten Kriegstagen hatte man das Gefühl, dass bald alles vorbei sein würde. Wir dachten, Russland wird sehen, dass die ganze Welt die Ukraine unterstützt, und sich zurückziehen. Ich hoffte, dass sich das russische Volk und die russische Elite gegen Putin erheben würden. Doch dann wurde klar, dass viele Russen stolz sind auf die Verbrechen ihres Militärs. Jetzt fürchten wir alle, dass der Krieg noch sehr lange andauern wird.

Ich glaube, dass uns nur der Druck aller zivilisierten Länder, sehr harte Sanktionen und die völlige Isolation Russlands helfen können. Wir hoffen auf weitere finanzielle und militärische Unterstützung und glauben fest an die Helden in unserer Armee. Die Deutschen unterstützen uns dabei sehr. Deutschland hat im Gegensatz zu Russland aus Fehlern in der eigenen Geschichte gelernt.

Unser Leben hier geht trotz des Schreckens weiter. Wir haben uns an die Sirenen, an die Alarme, an die Tragödien gewöhnt, so schlimm das klingen mag. Wir kämpfen für das Recht, eine Nation, ein Staat, ein Volk zu sein. Und ich als Literaturlehrerin bin fest davon überzeugt: Der Humanismus wird am Ende gewinnen.“

Protokoll: Natalia Aleksieieva

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