Tödliche Mutproben aus dem Internet

von Redaktion

INTERVIEW Ein Medienpädagoge erklärt, warum sich Jugendliche freiwillig die Luft abschnüren

München – Der zwölfjährige Archie aus Großbritannien, der im August starb, war nach einer Mutprobe auf der Online-Plattform TikTok ins Koma gefallen. Bei der so genannten Blackout Challenge würgen sich Kinder selbst oder schnüren sich die Luft ab. In den USA haben Eltern schon die Videoplattform verklagt, nachdem zwei acht- und neunjährige Mädchen bei dem Würgespiel ums Leben gekommen waren. Medienpädagoge Dr. Johannes Gemkow von der Universität Leipzig erklärt, was es mit diesem gefährlichen Trend auf sich hat.

Herr Gemkow, bei der „Blackout Challenge“ soll es etwa in den USA schon mehrere Todesfälle gegeben haben. Ist dieses Problem auch aus Deutschland bekannt?

Über Todesfälle weiß ich nichts. Aber wir können davon ausgehen, dass diese Mutproben auch in Deutschland ankommen. Es gab hier schon ähnliche Challenges. Auch Umfragen unter Jugendlichen zeigen das.

Welche ähnlichen Mutproben gibt es noch?

Etwa das „Choking Game“, da wird jemand von einem anderen von hinten gewürgt. Bei der „Cinnamon Challenge“ geht es darum, einen Esslöffel Zimt zu essen. Das soll schädlich sein. Oder die „Neck Nomination“, wo man in drei Minuten so viele Drogen nimmt, wie es nur geht.

Warum machen die Jugendlichen so etwas?

Mutproben gab es immer schon in diesem Alter. Jugendliche wollen sich von ihren Eltern abgrenzen, haben eine viel höhere Risikobereitschaft. Über die sozialen Medien werden sie zum Nachahmen aufgefordert und können andere nominieren. Die Challenges funktionieren nach einer Art Schneeballsystem und richten sich an Gleichaltrige. Über Likes und das Teilen von Videos gibt es „Belohnungsstrategien“. Dazu kommt der Gruppendruck, dem Jugendliche stark ausgesetzt sind.

Die altersgemäße Neigung zu Mutproben wird also durch die sozialen Medien also verstärkt?

Genau. Das geschieht durch dieses große Publikum und durch den Umstand, dass die Videos dauerhaft im Netz bleiben. Die Sichtbarkeit, die Reichweite verstärkt sich. Das macht es interessant für Jugendliche, für die Selbstdarstellung und Anerkennung sehr wichtig sind.

Gibt es Jugendliche, die besonders gefährdet sind?

Die Daten zeigen, dass es dabei keinen großen Unterschied zwischen den Geschlechtern gibt. Auch die soziale Schicht oder der Umstand, ob jemand in der Stadt oder auf dem Land lebt, spielt keine Rolle. Quer durch alle diese Gruppen kommen etwa neun Prozent aller Jugendlichen mit solchen Challenges in Kontakt. Besonders anfällig für selbstgefährdende Inhalte sind Jugendliche, die wenig Kompetenz im Umgang mit sozialen Medien haben. Die sie vielleicht nutzen, um einer problematischen Situation im Elternhaus oder in der Schule zu entkommen. Soziale Medien dienen dann dazu, aus der Alltagswelt zu fliehen. Damit steigt die Bereitschaft, die eigene Gesundheit zu gefährden. Und natürlich ist es eine Frage, inwieweit in Elternhaus oder Schule Medienkompetenz vermittelt wird.

Was können Eltern tun?

Man kann bestimmte Regeln für die Mediennutzung aufstellen, aber Verbote allein nützen nichts. Verständnis und Gesprächsbereitschaft sind am wichtigsten. Dann trauen sich die Kinder zu erzählen, wenn sie auf problematische Inhalte stoßen.

Unternehmen die Betreiber denn genug, um solche zu unterbinden?

Die sind natürlich auch in der Pflicht. Bei vielen Plattformen gibt es Beschwerdesysteme, sie sind jedoch sehr versteckt. Es steht in den Geschäftsbedingungen, dass Videos, die gefährliche Handlungen zeigen, gelöscht werden. Aber das kann nicht verhindern, dass solche Videos durchkommen. Da könnten die Plattformen über die Moderation und das Sperren von Inhalten proaktiv mehr machen.

Nimmt die Zahl der gefährlichen Online-Mutproben denn insgesamt zu?

Ja. Auch die Prüfstelle für jugendgefährdende Medien hat Challenges inzwischen aufgenommen. In einer EU-Umfrage sehen 16 Prozent der Jugendlichen diese Mutproben als Risiko. Aber zwei andere Gefahren im Internet sind für sie noch weitaus schlimmer: Cybermobbing und Online-Belästigungen.

Interview: Pia Rolfs

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