Der Mann, der die Welt veränderte

von Redaktion

VON ALEXANDER WEBER

Moskau/Berlin – Zuletzt deuteten Meldungen über einen monatelangen Krankenhausaufenthalt wegen einer Lungenentzündung bereits darauf hin, dass es Michail Gorbatschow nicht mehr gut ging. Sein Kopf sei hellwach, er schreibe an einem Buch, nur der Körper leide, hieß es offiziell beschwichtigend. Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls im November 2019 meldete er sich noch einmal mahnend zu Wort. Doch Reisen ins Ausland unternahm er schon längere Zeit nicht mehr. Selbst zur Trauerfeier für Helmut Kohl im Juni 2017 konnte er nicht mehr kommen. Und zum Angriffskrieg gegen die Ukraine sagte er öffentlich kaum noch etwas. Jetzt ist der einst zweitmächtigste Mann der Welt, der Herrscher über das untergehende Weltreich der kommunistischen Sowjetunion, im Alter von 91 Jahren gestorben.

Die Gegensätze konnten kaum größer sein: Wo auch immer er nach dem Ausscheiden aus dem Amt als Präsident der Sowjetunion in Deutschland auftauchte, jubelten ihm noch immer die Menschen mit „Gorbi, Gorbi“-Rufen zu. Anlässlich seines 80. Geburtstags wurde er zu einem prächtigen Empfang nach Berlin eingeladen, im Städtchen Gifhorn die dortige Europäische Freiheitsglocke 80 Mal geläutet, um die historische Leistung Gorbatschows zu würdigen.

In seiner Heimat Russland konnte dagegen von Jubelfeiern keine Rede sein. György Dalos, ein in Berlin lebender ungarischer Autor, fasste die Stimmung zuhause in seiner Gorbatschow-Biografie so zusammen: „Ein seltsames Paradoxon begleitet ihn nach wie vor: Während er im Ausland gefeiert wird, bewahrt das Gedächtnis der eigenen Heimat eher die Schattenseiten seiner ,Perestroika‘. Die Armseligkeit der leeren Regale am Ende der 80er und Anfang der 90er stellt das weit größere Elend der unmittelbar darauf folgenden Ära in den Schatten. Heute schätzt man in Russland die autoritäre Stabilität des angehenden 21. Jahrhunderts, sozusagen eine Ordnungsmacht mit Internet, weit höher als die chaotische Demokratie der Ära Gorbatschow.“

Dabei war Gorbatschow 1985 angetreten, der siechen Supermacht neues Leben einzuhauchen. Das Erbe, das ihm seine greisen Vorgänger Leonid Breschnew, Juri Andropow und Konstantin Tschernenko hinterließen, glich einer hochgerüsteten Ruine: Der Militärhaushalt verschlang den Großteil des Staatsbudgets, die Erlöse aus Ölexporten versickerten in Panzern und Raketen-Arsenalen, für viele Milliarden Rubel musste Getreide aus dem Westen in die einstige Kornkammer der Zarenzeit importiert werden, weil das Erntegut, falsch gelagert, in Silos verschimmelte.

Mit 20 Milliarden Dollar jährlich mussten die sozialistischen Bruderstaaten aus Moskauer Kassen am Leben erhalten werden, die reichen Rohstoffe des Landes wurden ausgebeutet, nur um die aktuellen Ausgaben zu decken. Dazu rund 20 Millionen Alkoholiker im Land. Eine Startbilanz, die jedem Insolvenzverwalter Schweißperlen auf die Stirn treiben würde.

Auch Gorbatschow reagierte entsetzt auf die Realitäten im Lande. Die Wahl des damals 54-jährigen dynamisch wirkenden Mannes aus Stawropol zum Generalsekretär wurde von den meisten ZK-Mitgliedern wie ein „Abschied von der Ära der Depression“ empfunden. Doch während sein Reformkurs in puncto Offenheit („Glasnost“) frischen Wind und neue Freiheiten in die Gesellschaft brachte (nicht zuletzt wegen der leidvollen Erfahrung der Tschernobyl-Katastrophe), kam der Wirtschaftsumbau kaum voran.

Seine Anti-Alkoholkampagne etwa trug nicht nur positive Früchte: Zwar sank die Zahl der Kranken im fünfstelligen Bereich – gleichzeitig versiegte für den Staatssäckel eine der wenigen sprudelnden Einnahmequellen. Ein weiteres Problem: Die Regale blieben leer, die Versorgungslage verbesserte sich nicht. Dafür stiegen die Preise. „Was hat uns ,Glasnost‘ gebracht? Die Wahrheit, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“, so die frustrierte Stimmung.

Ganz anders Gorbatschows Bilanz in der Außenpolitik. Er brachte mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan ein historisches Abrüstungsabkommen über die Abschaffung atomarer Mittelstreckenraketen in Europa zustande. Und erklärte schon 1986 im Politbüro das Ende der Breschnew-Doktrin – die entscheidende Voraussetzung dafür, die sozialistischen Bruderländer Osteuropas in die Freiheit zu entlassen. Oder frei nach Biograph Dalos: sie sich aus Gorbatschows Sicht „vom Halse“ zu schaffen. Schon damals lagen dem Kreml deutliche Analysen vor, die den Bankrott der osteuropäischen Staaten für die Zeit um 1989/1990 prognostizierten. Unvergessen Gorbatschows Reform-Verdikt über die Genossen in Ost-Berlin, Prag oder Bukarest: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“

Es gab auch schwarze Stunden in seiner Präsidentschaft. Viele Litauer machen ihn etwa für den „Blutsonntag“ im Januar 1991 verantwortlich, bei dem in der litauischen Hauptstadt Vilnius 14 Zivilisten getötet und hunderte verletzt wurden. „Die Litauer werden Gorbatschow nicht verherrlichen“, schrieb Außenminister Gabrielius Landsbergis gestern bei Twitter. Man werde nie vergessen, „dass seine Armee Zivilisten ermordete, um die Besetzung unseres Landes durch sein Regime zu verlängern“.

Dass Gorbatschow trotz seiner Fähigkeit, im Ausland enge und verlässliche persönliche Kontakte zu anderen Staats- und Regierungschefs zu knüpfen (nicht zuletzt zu Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher), im eigenen Umfeld von weniger Menschenkenntnis geprägt war, zeigt das Ende seiner politischen Laufbahn: Viele der Anführer des Krimputsches im August 1991 waren einstige Gorbatschow-Vertraute.

Dass sich selbst Gorbatschows oberster Leibwächter, Generalmajor Lebed, zusammen mit der Delegation der Putschisten davonmachte, spricht Bände. Zwar kehrte Gorbatschow nach seiner Freilassung nach Moskau zurück, doch seine Regentschaft war zu Ende: Der Russe Boris Jelzin hatte nicht nur den Putsch niedergeschlagen, er entmachtete auch Gorbatschow und stieß die alte Sowjetunion in den Orkus der Geschichte.

Über lange Zeit wurde der Friedensnobelpreisträger nicht müde, seine Nachfolger im Kreml, Wladimir Putin und Dmitri Medwedew, zu kritisieren. Putins Partei „Geeintes Russland“ sei nur eine schlechte Kopie der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Die Verfassung, das Parlament, die Gerichte – alles nur eine Imitation von Demokratie, schimpfte er. Andererseits verteidigte er im Ausland anfangs Putins Vorgehen bei der Annexion der Krim als Verteidigung russischer Interessen, was im Westen für Kopfschütteln sorgte. Nur intern soll er später Kritik am Angriff auf die Ukraine geäußert haben. Nach Angaben des früheren Chefredakteurs von Echo Moskaus, Alexej Wenediktow, kritisierte Gorbatschow ihm gegenüber den Angriffskrieg gegen das Nachbarland scharf. Offiziell äußerte er sich zu dem Zeitpunkt allerdings schon nicht mehr.

Auch der Westen selbst, insbesondere die USA, bekamen zuvor Kritisches zu hören. Man habe sich zum Sieger des Kalten Krieges erklärt, die Schwäche Russlands ausgenutzt und kurzsichtige Politik betrieben, beklagte er. In seinem letzten Buch „Was jetzt auf dem Spiel steht“ kritisierte er ein „Triumphgehabe“ des Westens.

In Deutschland wird er im Gedächtnis bleiben als der Mann, der es den Ostdeutschen erlaubte, mit friedlichen Mitteln die Mauer einzureißen – und die Rote Armee in ihren Kasernen beließ.

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