München – Über das Attentat auf die israelische Olympia-Mannschaft durch die palästinensische Terrorgruppe „Schwarzer September“ am 5. September 1972 gibt es Filme und Bücher. Doch wie hat es sich angefühlt, hineingezogen zu werden in dieses Kapitel der Weltgeschichte? Roland Krack, heute 74, gebürtiger Münchner, war an jenem Tag als Polizist im Einsatz – sowohl im Olympischen Dorf als auch auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck.
Herr Krack, was war Ihre Aufgabe während der Spiele in München?
Ich war mit der Polizeiausbildung fertig, da kommt man für ein halbes Jahr zu einer Einsatz-Hundertschaft. Das war genau zur Zeit, zu der die Olympischen Spiele stattfanden. München hatte am Tag drei, vier Demonstrationen, die wir begleitet haben.
Was für Demos?
Aus der 68er-Zeit heraus, das ganze Spektrum: Vietnamkrieg, Baader-Meinhof. Am Tag vor dem Olympia-Attentat waren wir am Stachus bei einer Demonstration, die wegen Gewalttätigkeit aufgelöst wurde. Die Teilnehmer wollten in die Fußgängerzone, die aber als friedliche Zone ohne politische Betätigung ausgewiesen war. Da ist auf junge Polizisten eingeprügelt worden, der Kollege Anton Fliegerbauer, der in Fürstenfeldbruck ums Leben kam, ist da verletzt worden.
Das ist eigentlich gar nicht bekannt, dass es während Olympia so zuging.
Aber wie! Das war unser Horizont. Mit den Spielen hatten wir nichts zu tun. Man konnte allenfalls privat hingehen. Der Sicherheitsdienst auf dem Olympiagelände, der war keine feste Einheit, er bestand aus Leuten, die sich aus ganz Deutschland gemeldet hatten und sich in München ein Erlebnis verschafften. Man muss sehen: Die haben nicht nur die angetrunkenen Sportler über den Zaun des Olympischen Dorfes steigen lassen, sondern auch die Terroristen.
Am 5. September kam es für Sie doch noch zum Diensteinsatz.
Wir waren die Gruppe der Wahl. Wir haben in der Früh um sieben angefangen, es wurde zur Eile getrieben: So schnell wie möglich ins Olympiadorf.
Wie waren Sie ausgerüstet?
Wir hatten eine Hose, die im Bestzustand eine Bügelfalte hatte, und die für unseren Dienst übliche Lederjacke. Im Lauf des Tages bekamen wir Wehrmachtshelme. Und in jeder der vier Gruppen – wir waren über 30 Leute – gab es eine Maschinenpistole. Dazu hatte jeder seine eigene Waffe. Ein Pistölchen. Obwohl wir von sieben bis Mitternacht im Dienst waren, kam keiner, um uns andere Waffen zu bringen.
Hat man Ihnen erklärt, worum es geht?
Wir wussten, da sind Geiselnehmer und die israelische Mannschaft. Wir waren im Untergeschoß, auf der Fahrebene, und sollten verhindern, dass die in die Tiefgarage rennen. Aber was, wenn die Geiselnehmer, die von der Waffe schon Gebrauch gemacht haben, da raus- und auf uns zu stürmen? Und wer ist Geiselnehmer, wer Geisel?
Es gab kein Konzept, nur den Schießbefehl „Feuer frei“ – aber auf wen, wann, warum? Wir waren für den Einsatz nicht vorbereitet. In der Ausbildung hatten wir gelernt: Ihr seid nicht nur Polizisten, sondern auch Sozialingenieure. Die Blickrichtung war anders ausgerichtet. Es gab nie einen Einsatz, bei dem das Schießen im Vordergrund stand. Für die Polizei ist Schießen Selbstschutz, Notwehr. Wenn es heute zu einer Situation mit einem finalen Todesschuss kommt, ist einer dabei, der die Verantwortung trägt. Bei uns hieß es: „Du kannst gut schießen. Geh mal vor – und dann Feuer frei.“ Jetzt wäre einer für die Kommunikation zuständig und der Schütze nur für sich und seine Waffe. Wenn da eine Gruppe ist, erwartet man ein konzertiertes Vorgehen.
Der Tag zog sich hin, es wurden Ultimaten gesetzt und nach Verhandlungen verschoben. Was haben Sie davon mitbekommen?
Unser Zugführer ging zu Besprechungen nach oben und brachte nur immer mit: „Keine Veränderungen, ihr müsst sichern.“ Gegen Mittag wollten die Geiselnehmer was zu essen, unser Zugführer und noch jemand haben sich Kochkleidung angezogen und gedacht, sie könnten in das Haus reingehen. Aber es ging nur der Türspalt auf, es hieß: „Abstellen, abhauen!“ Wir standen hinter Säulen, Treppenaufgängen, Mauern und haben den Tag in ständiger Ungewissheit verbracht.
Gegen Abend kam Bewegung in die Sache.
Bei Einsetzen der Dämmerung kamen der Geiselnehmer und Polizeipräsident Schreiber auf die Fahrebene. Da war klar, dass die Terroristen und die Geiseln ausgeflogen werden und sie auf diesem Weg zu den Hubschraubern gehen sollten. Man dachte, die lassen sich darauf ein, laufen an uns vorbei, wir hinter den Säulen, das war wie Räuber und Schandi. Das hat der Terroristenführer abgelehnt, denn hinter jeder Säule konnte Gefahr lauern. Also kam ein Bus, der sie zu den Helikoptern brachte.
Doch für Sie und Ihre Kollegen war der Einsatz damit nicht beendet.
Es hieß sofort, dass wir weiter zuständig sind. Auch wir flogen in einem Hubschrauber – das einzige Mal in meinem Leben – über die schön beleuchtete Stadt, dem Sonnenuntergang entgegen. Es war total dunkel, als wir am Militärflughafen Fürstenfeldbruck ankamen. Wir wurden abseits des Zentralgebäudes abgesetzt und sollten uns Richtung Flughafengebäude bewegen. Wir wurden angehalten von der Bereitschaftspolizei, die für die äußere Absperrung zuständig war und ein Kennwort haben wollte. Sie wussten nicht, dass der Hubschrauber Kollegen abgesetzt hatte, es gab keinen Funkkontakt. Wir sind ein Stück weiter, es kam ein gepanzertes Fahrzeug an, der Einsatzleiter, der Polizei-Vizepräsident Wolf, erläuterte, dass wir eine innere Absperrung um das betonierte Feld vor dem Flughafengebäude errichten sollten. Die Aufgabe war, zu verhindern, dass die Attentäter in die Dunkelheit abhauen.
Zum Schein war eine Lufthansa-Maschine bereitgestellt.
Es wurden ein Großer und ein Kleiner unter uns rausgesucht, die in Lufthansa-Uniformen passten und zu denen man sagte: Ihr spielt die Piloten, die Crew. Die kamen aber schnell wieder aus der Maschine, sagten: Das ist ein Himmelfahrtskommando, wir lassen uns doch nicht im Flugzeug abschießen. Man hatte den ganzen Tag Zeit gehabt, hätte Schauspieler finden können, die diese Rollen einnehmen. Man hätte von überallher die besten Schützen holen können. Sie hatten nur fünf Schützen – zu wenig für acht Geiselnehmer. Da muss man 20 Leute haben. Das waren Dinge, bei denen man schreien konnte, das war Dilettantismus.
Es eskalierte.
Der Anführer kam aus dem leeren Flugzeug, merkte, da stimmt was nicht. Das Licht auf dem Rollfeld ging an – und es wurde geschossen. Einige Geiselnehmer sind aus den Hubschraubern raus, einer ist ein paar Meter von uns entfernt getroffen worden und das Gedärm rausgequollen – wie auf einem Schlachtfeld. Ich hatte Todesangst. Wir lagen im Sand, mit unseren Lederjacken, und im Abstand von ein paar Metern gab es Einschläge. Ich bin überzeugt: Die, die schossen, wussten nicht, dass wir da lagen. Ich habe geschrien: „Hört auf, ihr Idioten!“ Wir waren wirklich am Rande des Feuers und hatten Glück. Einer der Hubschrauberpiloten ist schwer verletzt worden.
Wie lange lagen Sie im Feuer?
Eine Minute, zwei, höchstens. Die ersten Schüsse galten den Anführern. Früher dachte ich, das Schießen hätte länger gedauert. Aber es gab keine Gegenwehr. Es wurde auch aus den gepanzerten Fahrzeugen der Polizei geschossen.
Und als es vorbei war?
Habe ich das Dümmste in meinem ganzen Leben gemacht, was mir auch keiner angeschafft hat: Um nachzusehen, ob jemand überlebt hat, sind wir zu dem Hubschrauber gegangen, der nicht ausgebrannt war. Wir schauten hinein: Tote, glasige Augen, aber es bewegte sich was. Normalerweise hätte man sich zurückziehen müssen. Wir riefen: „Herauskommen!“ Drei Geiselnehmer hatten sich unter den Toten versteckt, sie hatten Schiss und gingen widerstandslos mit. Ein Kollege und ich haben sie am Arm vor uns hergeschoben zum Flughafengebäude, wir sind hinein, über den durch einen Querschläger ums Leben gekommenen Kollegen Fliegerbauer. Da war ein Raum mit Leuten, von denen ich nur Hans-Dietrich Genscher und Franz Josef Strauß erkannt habe. Wir haben die Geiselnehmer unkontrolliert übergeben, das hätte auch alles beweisfest gemacht werden müssen, doch es war nur Chaos.
Und dann?
Dienstende, auf Wiedersehen. Die Kripo übernahm. Es war auch nicht tagelang das Hauptgesprächsthema wie bei anderen Einsätzen, die man nachbesprochen hat. Zweimal musste ich ins Landeskriminalamt zur Befragung. Für mich war das lange Zeit ein Loch, man war alleine.
Hat das Erlebnis Sie lange beschäftigt?
Eigenartigerweise hat es mich nicht traumatisch betroffen. Es war eher so, als sähe man einen Film an, in dem etwas Fürchterliches passiert. Das verarbeitet man mit Distanz. Ich war nicht Handelnder, das wäre ich gewesen, wenn ich geschossen und einen getroffen hätte. Ich hatte die Pistole kein einziges Mal in Schusshaltung. Ich war Teilnehmer, Statist.
Im September, Oktober war unsere Einsatzhundertschafts-Zeit dann vorbei, und ich habe mir bewusst das Polizeirevier am Leonrodplatz, das für Neuhausen und das Olympiagelände zuständig war, ausgesucht.
Doch wir sitzen hier 50 Jahre danach und reden über 1972. Sie beschäftigen sich also doch noch mit den Vorfällen – und es wird ja immer noch und immer wieder die Schuldfrage diskutiert.
Man muss die Realitäten der Zeit sehen. 1962 gab es die Schwabinger Krawalle, ich habe sie als Jugendlicher miterlebt, danach wurde alles runtergefahren, auch die Sondereinheiten der Polizei. Mein Hauptvorwurf ist: Man hat 1972 die kommunale Polizei München alleine gelassen. Die bayerischen Behörden haben versagt, weil sie für München keine Spezialkräfte im Hintergrund hatten und naiv in die Sache gestolpert sind. Man kritisiert den damaligen Münchner Polizeipräsidenten Manfred Schreiber – aber wem unterstand er? Dem bayerischen Innenministerium. Man sagt auch häufig: Deutschland hat versagt. Aber es war kein Deutschland da. Abgesehen davon, dass der Bundesgrenzschutz Helikopter zur Verfügung gestellt hat. Durch kleinkariertes Vorgehen ist dieses Massaker verursacht worden.
Was bedeutete der Anschlag für München und die olympische Idee?
Es wird meines Erachtens viel zu wenig wahrgenommen, dass wir es mit einem lang anhaltenden, ungelösten, unerträglichen Konflikt in Nahost zu tun haben. Er ist eine Wunde, die zufällig die Olympischen Spiele tangiert hat. Die hatten nur insofern damit zu tun, als sie am nächsten Tag weitergingen. Das Attentat war ein feindlicher Akt dieser Leute der Welt gegenüber, die sich friedlich getroffen hat. Und es hat nichts gebracht aus Sicht dieser Palästinenser. Sie wollten die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich ziehen, und für die amerikanischen Sender war es nur toll, wie die unbeholfenen deutschen Polizisten in Trainingsjacken übers Dach gelaufen sind. Das ist das Spannungsfeld. Der Skandal ist nicht, dass die israelischen Hinterbliebenen bisher kein Geld gekriegt haben, sondern dass der Konflikt nicht gelöst ist. Etwas wie in München ist auch bei den nächsten Olympischen Spielen möglich.
Die überlebenden Attentäter, die Sie mit festgenommen haben, kamen schon am 29. Oktober als Folge einer Flugzeugentführung schnell frei – man hatte den Eindruck, die Bundesrepublik wäre froh gewesen, sie los zu sein.
Ich hatte wieder Dienst und war bei der Überstellung dabei. Ein Staat mit mehr Durchsetzungskraft hätte gesagt: Hier findet der Prozess statt. Oder: Ihr habt Israel angegriffen und werdet überstellt. Es wurde der bequemste Weg gegangen.
Interview: Günter Klein