65 Milliarden gegen die Wut der Straße

von Redaktion

VON MARC BEYER

München/Berlin – Für eine so kurze Nacht sehen die Teilnehmer noch recht frisch aus. 22 Stunden, berichten die Mitglieder des Koalitionsausschusses, habe man insgesamt getagt, um ein drittes Entlastungspaket zu schnüren. Weil sie am Samstagvormittag zusammengekommen sind und die Ergebnisse am Sonntag um kurz nach Elf vorstellen, kann für Schlaf nicht viel Zeit geblieben sein. Die Verhandlungen seien „lang und ein bisschen aufreibend“ gewesen, sagt Grünen-Chef Omid Nouripour. Eines der erklärten Ziele wird dann auch krachend verfehlt: Die Nachtsitzung, die keiner wollte, bleibt ihnen nicht erspart.

Aber die Herausforderungen sind gewaltig und die Ideen, wie ihnen zu begegnen ist, zu Beginn des Treffens nicht immer deckungsgleich. Wie weit man in zentralen Fragen, ob bei der Begrenzung von Energiepreisen oder dem öffentlichen Nahverkehr, auseinanderlag, ist keinem Beobachter verborgen geblieben. Die Koalition ist deshalb nicht nur inhaltlich in der Bringschuld, sondern auch stilistisch.

Als Olaf Scholz am Ende davon spricht, Deutschland stehe „in dieser schwierigen Zeit zusammen“, lässt sich das auf die Ampel übertragen. Man hat sich zusammengerauft, jeder ist irgendwie zufrieden mit dem Ergebnis und reklamiert für sich, seine Positionen durchgesetzt zu haben. Nouripour macht die grüne Färbung des Pakets an vier Aspekten fest, darunter Klimaschutz und soziale Ausgewogenheit. FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner nennt gleich fünf, bis hin zur Homeoffice-Pauschale, die künftig den Papierkrieg zum häuslichen Arbeitszimmer überflüssig machen soll. Zum Teil, bei der Frage der Gerechtigkeit oder der generellen Durchschlagskraft des 65-Milliarden-Pakets, meinen beide praktisch dasselbe. Sie nennen es nur unterschiedlich, und diese sprachlichen Feinheiten spielen dann auch eine wichtige Rolle.

Am deutlichsten zeigt sich das beim Kampf gegen die explodierenden Strompreise. Lindner weist ausdrücklich darauf hin, dass man „Maßnahmen des Energie-, nicht des Steuerrechts“ nutze. Das böse Wort von der Übergewinnsteuer, die in der Koalition so kontrovers diskutiert worden ist, kommt auf dem Podium keinem über die Lippen. Parteiübergreifend heißt es jetzt „Zufallsgewinne“.

Das Ergebnis ist das gleiche. Ab einer Obergrenze sollen Profite der Energiekonzerne abgeschöpft und zur Senkung der Strompreise genutzt werden. Das entspreche den „Gerechtigkeitsvorstellungen, die die Bürger haben und ich auch“, sagt der Kanzler. Bei Lindner klingt es sogar fast so, als tue man mit dem Eingriff, der etliche Milliarden einbringen soll, auch den Konzernen selbst einen Gefallen. Die Zufallsgewinne, erinnert er, fielen gerade bei den Anbietern von vergleichsweise günstigen Energieformen an, „die das gar nicht wollen“ oder es zumindest nicht gezielt angestrebt haben. Den „Rendite-Autopiloten“ werde man nun abschalten.

Diese Vokabel hat der Finanzminister zuletzt häufiger verwendet. Auch sonst kommt dem Zuhörer einiges bekannt vor. Es fehlt weder das „Unterhaken“, das der Kanzler immer wieder beschwört, noch der „wuchtige“ Charakter der Entlastungen. Zweimal bemüht Scholz zudem seinen Leitsatz „You’ll never walk alone“.

Neu ist, dass nun einige Bevölkerungsgruppen bedacht werden, die bei den Entlastungen bisher leer ausgegangen sind, konkret Rentner und Studenten. Auch beim 9-Euro-Ticket, einem der prominentesten Punkte des Pakets, sieht man jetzt etwas klarer. Grünen-Chef Nouripour nennt für das Nachfolgemodell, das vor allem seiner Partei und der SPD wichtig war, einen denkbaren Preis von 49 Euro. Gemessen an der Spanne, die zuletzt öffentlich diskutiert wurde, würde sich das im mittleren Bereich bewegen. Im Beschlusspapier ist ein Rahmen zwischen 49 und 69 Euro notiert.

Die FDP, die mit dem Verkehrsministerium das verantwortliche Ressort leitet, stand dem Ticket bisher zögerlicher gegenüber. Doch auch Parteichef Lindner verbucht die Einigung nun als Erfolg. Die digitale Verfügbarkeit und die Vereinheitlichung des Tarifsystems sind für ihn ein Beleg für die FDP-Handschrift. Die 1,5 Milliarden, die der Bund bereitstellt, seien ein starker Anreiz für die Länder: „Wenn sie smart vorgehen.“

Scholz sagt, man habe in diesen 22 Stunden „vertrauensvoll und vertraulich“ an Lösungen gearbeitet. Tatsächlich dringt – was keine Selbstverständlichkeit ist – lange Zeit nicht das kleinste Detail nach außen. Erst am Sonntagmorgen um 6.47 Uhr verschickt die Deutsche Presse-Agentur eine Eilmeldung zur Einigung, dann kehrt für die nächsten Stunden wieder Ruhe ein.

Sie haben es sich nicht leicht gemacht, aber mit dem Ergebnis sind sie zufrieden. „Wir werden durch diesen Winter kommen“, versichert der Bundeskanzler. Er meint damit das ganze Land. Aber vielleicht ein bisschen auch seine Koalition.

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