München – Es gibt nicht viele Momente der Wahrhaftigkeit im russischen Staatsfernsehen, umso bemerkenswerter ist jener von Samstagabend. Ein Polit-Talk, zu Gast sind Analysten, Politiker, darunter auch ein gewisser Boris Nadezhdin. Der ehemalige Duma-Abgeordnete spielt für gewöhnlich die Rolle des moderaten Kreml-Kritikers, den die übrigen Gäste dann verbal niederprügeln dürfen. Doch diesmal ist etwas anders.
Man müsse jetzt eines verstehen, sagt Nadezhdin, spürbar aufgebracht: „Es ist absolut unmöglich, die Ukraine zu besiegen“ – jedenfalls nicht mit den „Ressourcen und kolonialen Kriegsmethoden“, die Russland gerade einsetze. Er spricht von einer starken ukrainischen Armee, die von den mächtigsten Staaten unterstützt werde, und kritisiert alle, die Präsident Putin eingeredet hätten, der Militär-Einsatz werde effektiv sein. Im Grunde redet sich Nadezhdin um Kopf und Kragen, weshalb ein anderer Gast ihm mit bohrendem Blick rät, auf seine Sprache zu achten. Aber da ist es schon zu spät.
Eigentlich ist das russische TV ein Ort schamloser Propaganda. Hier ist der Krieg eine „Spezial-Operation“ und die russischen Soldaten sind „Befreier“. Hier dürfen rasende Gäste nicht nur den ukrainischen Präsidenten, sondern auch den deutschen Kanzler einen Nazi nennen und von der Invasion Berlins fantasieren. Das ist alles im Sinne des Kremls. Aber die Episode vom Samstag zeigt, dass die Fassade Risse bekommt.
Zwar behauptet die russische Führung um Wladimir Putin weiter, alles laufe nach Plan. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte am Montag, die „Spezial-Operation“ werde fortgesetzt, bis die „anfangs gesetzten Ziele erreicht sind“. Aber dass die Kreml-Truppen im Nordosten der Ukraine derzeit ein Debakel erleben, die Ukrainer in berauschendem Tempo Ort um Ort zurückgewinnen, bleibt offenbar selbst in Russland nicht verborgen. Gestern kamen erneute Erfolgsmeldungen. Nicht aus dem Nordosten, sondern aus der südlichen Region Cherson. „Wir haben rund 500 Quadratkilometer befreit“, sagte eine Sprecherin des ukrainischen Südkommandos. Der ukrainische Generalstab meldete, dass Russland derzeit keine neu zusammengestellten Truppen mehr ins Land sende. Die russischen Linien bröckeln und auch willige Helfer von Kreml-Chef Wladimir Putin sind schockiert.
Der Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow, Beiname „Bluthund“, spricht im Nachrichtendienst Telegram von „Fehlern“ und drängt den Kreml zu taktischen Änderungen. Anderenfalls sei er gezwungen, „zur Staatsführung zu gehen, um ihr die Lage vor Ort zu erklären“. Weißrusslands Diktator Alexander Lukaschenko soll angeblich mit dem Gedanken spielen, wieder einen Botschafter nach Kiew zu schicken. Auch einzelne Lokalpolitiker in Moskau und St. Petersburg muckten zuletzt auf. Eine Gruppe von 18 Abgeordneten auf kommunaler Ebene fordert Putins Rücktritt, wie das russische Nachrichtenportal „The Insider“ berichtet.
Noch sind die Geländegewinne der Ukraine eine Momentaufnahme, noch ist unklar, wie lange Kiews Truppen die Offensive durchhalten. Auch Analysten sind vorsichtig. Ob das der Wendepunkt des Krieges sei, lasse sich nicht sagen, meint Militärexperte Carlo Masala von der Münchner Bundeswehr-Uni. „Entscheidend wird die Frage sein: Wird es der russischen Armee gelingen, ihre Verteidigungslinien zu stabilisieren – und wenn ja wo“, sagte er dem WDR.
Nicht mal Kreml-Propagandisten sind sich sicher, ob das gelingt. Mehr noch: Diejenigen, die die Invasion am meisten bejubelten, schießen besonders scharf gegen die Führung in Moskau. „Der Krieg in der Ukraine wird bis zur völligen Niederlage Russlands weitergehen“, schrieb der Kriegs-Blogger Igor Girkin kürzlich bei Telegram. „Wir haben schon verloren, der Rest ist nur eine Frage der Zeit.“
Girkin, ein früherer Geheimdienst-Oberst mit exzellenten Verbindungen an die Front, ist einer von vielen einflussreichen Kriegsbloggern, die dem Kreml schwere Vorwürfe machen. Lange versorgten sie ihre Follower – oft Hunderttausende und mehr – mit Erfolgsnachrichten, heizten die Kriegslust an. Jetzt machen sie Druck auf Putin.
Der macht es ihnen leicht. Am Samstag, also just an dem Tag, da die ukrainische Gegenoffensive richtig an Fahrt aufnahm, weihte der Kreml-Chef und Oberbefehlshaber der Streitkräfte ein Riesenrad in Moskau ein, zur Feier des 875. Geburtstags der Hauptstadt. Ein pro-russischer Blogger reagierte entsetzt. „Was stimmt nicht mit euch?“, schrieb er bei Telegram. Russische Soldaten kämpften ohne ausreichende Ausrüstung, hätten nicht mal Erste-Hilfe-Kästen und die Führung feiere „Milliarden-Rubel-Partys“. Tags zuvor platzte Yuri Podolyaka – 2,3 Millionen Telegram-Follower – der Kragen. Die „New York Times“ zitiert ihn: Sollte das Militär die Rückschläge weiterhin verheimlichen, würden die Russen „aufhören, dem Verteidigungsministerium zu vertrauen und bald auch der Regierung als Ganzes“.
Die Wut ist groß, manche fordern schon, hohe Militärs und Verteidigungsminister Sergej Schoigu zur Rechenschaft zu ziehen. Der Kreml, bei Kritik eigentlich unerbittlich, lässt all das bislang zu. Das überrascht, könnte aber auch Taktik sein. Denn was die Blogger fordern, ist eine Ausweitung des Krieges, eine Generalmobilmachung. Sie spiegelten damit die Meinung der russischen Elite, sagte der Analyst Dmitri Kuznets der „New York Times“. Ein Großteil glaube, „dass es notwendig ist, härter zu kämpfen und zu mobilisieren“.
Noch schreckt Putin vor einer solchen Eskalation zurück. Stattdessen: scharfe Rhetorik aus dem Kreml. Ex-Präsident Dmitri Medwedew drohte der Ukraine gestern, man werde die bedingungslose Kapitulation verlangen, sollte Kiew nicht in Verhandlungen zu den aktuellen Bedingungen einwilligen. Verhandlungen? Kiew dürfte derzeit wenig Grund dazu sehen.