München – Besser hätte es nicht laufen können. Punkt 9 Uhr am Samstagmorgen kämpft sich die Sonne durch die Wolkendecke und hüllt die Münchner Theresienwiese in einen leuchtenden Schimmer. „Der liebe Gott muss a Bayer sein“, kommentiert ein Standlverkäufer. Ein paar Minuten später öffnet das Festgelände. Und im Vollsprint spurten die ersten Besucher zu den Zelten. Ganz vorn dabei: Der 21-jährige Nick Gloßner und seine Freunde. Seit 4 Uhr hatte die Gruppe vor dem Eingang ausgeharrt, um als Erste im Zelt zu sein. „Wir wollen im Hacker-Zelt direkt vor der Bühne sitzen“, erzählt der Student. „Alle waren gut drauf, die Wartezeit ist schnell vergangen.“ Der Plan geht auf, wenig später sitzt die Gruppe am gewünschten Platz. Ihren ersten Wiesn-Tag kann ihnen nun niemand mehr nehmen.
Am Samstag wurde in München nach zweijähriger Corona-Pause wieder das größte Volksfest der Welt eröffnet. Endlich, atmen Wiesn-Fans, Wirte und Schausteller auf. Unverantwortlich, finden andere, die den bierseligen Feiertagen in Zeiten von Pandemie, Krieg und Energiekrise wenig abgewinnen können. Auf der Theresienwiese ist von dieser Ambivalenz zum Auftakt wenig zu spüren –auch wenn der Andrang etwas geringer ausfällt als in vergangenen Jahren.
In der Stadt hatten jedenfalls viele schon richtig hingefiebert auf den großen Wiesn-Anstich. Und so ganz konnte es OB Dieter Reiter (SPD) wohl selbst nicht mehr erwarten. Es war noch wenige Sekunden vor 12 Uhr, da zapfte das Stadtoberhaupt bereits das erste Fass Bier im Schottenhamel an. Ein klassischer Frühstart, würde man im Sport sagen. Der aber im Falle Reiters keine Disqualifikation für den Rest des Oktoberfests nach sich zog. Drei Schläge hatte der OB benötigt, dann war am Samstag um 12 Uhr das 187. Oktoberfest offiziell eröffnet. In der Vergangenheit hatte es Reiter oft mit zwei Schlägen geschafft. Doch, um in der Sportlersprache zu bleiben: Nach den beiden Absagen sei der Trainingsrückstand vermutlich etwas zu groß gewesen, erklärte der OB mit einem Augenzwinkern. Aber egal: „Hauptsache, das Fest beginnt“, fügte Reiter an.
So sahen das alle, nicht nur die Gäste aus der Politik. Wie üblich warteten am ersten Tag schon viele Menschen seit den frühen Morgenstunden vor den Zelten auf der Theresienwiese. Das Festgelände war am Nachmittag schließlich gut gefüllt, ohne aber überfüllt zu sein. So war zumindest der Eindruck vieler Besucher. Auch die Bundespolizei vermeldete einen augenscheinlich etwas geringeren Andrang als sonst: Es gebe an den Bahnhöfen bisher keine „Massenprobleme“, sagte ein Polizeisprecher – und führte das auf das nasskalte Wetter zurück. Am Sonntag zog die Festleitung eine erste Zwischenbilanz: 700 000 Gäste waren am Wochenende schätzungsweise auf der Wiesn. Deutlich weniger als 2019, als es noch rund eine Million Menschen waren.
Die Stimmung in den Zelten war trotzdem gut. Eine der ersten Massen, die die Anzapfbox im Schottenhamel verließen, ging an das Gesangspaar Marianne und Michael – denen allerdings gleich ein Malheur passierte. Der Krug fiel von der Bank. Für Nachschub war aber schnell gesorgt, und Marianne nahm den Zwischenfall gelassen: „Es ist ein wahnsinnig schönes Gefühl, wieder hier auf der Wiesn zu sein.“
Damit war die Tonlage vorgegeben. Denn auch auf der Empore in der Ratsbox war die Freude über das Oktoberfest-Comeback bei den geladenen Gästen aus Politik und Gesellschaft einhellig. Vergessen waren die Diskussionen, ob man die Wiesn nicht erneut wegen Pandemie oder Ukraine-Krieg absagen sollte. Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (FW), dem bekanntermaßen die Rückkehr zur Normalität nicht schnell genug gehen konnte, war an diesem Anstichtag auch einer der ersten Ehrengäste, die in der Ratsbox auftauchten. „Das Oktoberfest muss sein, die Menschen brauchen auch in Krisenzeiten einen Grund zur Freude“, sagte Aiwanger. Er glaube nicht, dass sich die Wiesn zu einem Corona-Desaster entwickeln werde. „Wir hatten bereits viele andere Volksfeste. Die hohen Inzidenzzahlen sind dort nicht in den Krankenhäusern angekommen.“
Ministerpräsident Markus Söder (CSU), der beim Anstich vereinzelt ausgepfiffen wurde, sah in der Wiesn „ein Gefühl von Heimkommen und Wiedersehen“. Söder saß zusammen mit seiner Ehefrau Karin und dem Ehepaar Petra und Dieter Reiter einträchtig Seite an Seite an einem Tisch. Die Wiesn sei „politische Friedenszeit“, sagte der Ministerpräsident, der ja mit Reiter schon den ein oder anderen Strauß ausgefochten hat.
Söder trug im Gegensatz zu Reiter keine waschechte Lederhose, sondern einen Trachtenanzug, was der Mittelfranke so kommentierte: „Jeder soll anziehen dürfen, was er will – und im Übrigen auch singen dürfen, was er will.“ Eine Anspielung auf die Diskussion um den umstrittenen Song über Puffmutter „Layla“. Der wurde wenig später dann gleich im Zelt gespielt, was laut Wirt Christian Schottenhamel allerdings einer Einlage des Comedians Sebastian Pufpaff für seine Sendung „TV Total“ geschuldet war.
Bei Nieselregen und Kälte zog es die Menschen an den ersten beiden Tagen vor allem in die Zelte und in die überdachten Fahrgeschäfte wie das Riesenrad und die Geisterbahn. Bei Lebkuchenherz-Verkäufer Andreas Traut lief das Geschäft eher verhalten. „Ich glaube nicht, dass das mit Corona oder Wirtschaft zu tun hat“, sagt er. Der Grund sei ganz klar: „Schlechtes Wetter.“ Deswegen hat Wiesn-Chef Clemens Baumgärtner für die nächsten Tage vor allem einen Wunsch: „Dass sich Petrus wieder daran erinnert, wie anständiges Wiesn-Wetter ausschaut.“