Der Eremit aus dem Kirchwald

von Redaktion

VON CLAUDIA MÖLLERS

Nussdorf – Andächtig faltet Bruder Damian die Hände, während das Sonnenlicht durch das Stubenfenster auf die Seiten der aufgeschlagenen Bibel fällt. Ruhig ist es in der Klause neben der Kirche Mariä Heimsuchung in Kirchwald, 200 Meter oberhalb von Nußdorf (Kreis Rosenheim). Auch Napoleon und die Seinen sind mucksmäuschenstill. Erst bei Dunkelheit tobt die Siebenschläfer-Familie durchs Gebälk.

Stille ertragen, besser noch lieben zu können, ist Voraussetzung für das Leben, das Jürgen Fach – so lautet sein Geburtsname – führt. Seit 2018 lebt der heute 62-Jährige als Einsiedler in der Abgeschiedenheit, eine dreiviertel Stunde Fußweg von Nußdorf hinauf nach Kirchwald. Bruder Damian versorgt dort die Kirche, die Klause und den idyllischen Garten. Er steht aber auch Menschen bei, die sich in Not an ihn wenden – wie der junge Mann aus dem Nachbardorf, der gerade an die Haustür geklopft hat und dessen Mutter schwer krank ist. „Natürlich bete ich auch für die sterbende Mutter.“

Bruder Damians breiter hanseatischer Zungenschlag verrät sofort seine Herkunft. Das Wörtchen „uuuuund“ dehnt er bis zum Gehtnichtmehr. Der schmächtige Mann versinkt fast im Ordensgewand. Aber er ist zäh, hat sich durch ein schweres Leben gekämpft – und kann gut allein sein. Mit sich, dem Herrgott und den Tieren hier im Kirchwald.

Vielleicht war es Fügung, die den Hanseaten nach Nußdorf führte. Denn wie er war auch der erste Eremit in der Einsiedelei, Michael Schöpfl, zunächst evangelisch. 1643 hatte sich der aus Mähren stammende Schöpfl im Petersdom in Rom katholisch taufen lassen. Auf dem Rückweg, ein Madonnenbild im Gepäck, geriet er unter Soldaten, die ihn gewaltsam anwarben. Für den Fall einer Rettung gelobte er, als Einsiedler zu leben. Nach der Befreiung durch einen Klosterprior wanderte er nach Norden und verspürte in Nußdorf ein heftiges Verlangen, sich niederzulassen. Dafür wählte er einen stillen Ort an einer Höhle oben im Kirchwald. 1720 wurde die erste Kirche gebaut. Heuer feiert die Einsiedelei ihr 300-jähriges Jubiläum.

Der heutige Eremit ist als Sohn einer evangelischen Arbeiterfamilie in Hamburg-Altona geboren. Seine Oma drängte auf einen „vernünftigen Beruf“ – und so wurde Jürgen erst Bäcker. Als die Oma mehrere Schlaganfälle erlitt, hat der 17-jährige Enkel eine Ausbildung zum Krankenpfleger begonnen – und später auch die Großmutter zehn Jahre lang gepflegt. Doch die Oma lenkte nicht nur seinen Berufsweg, sie hat ihn auch für den Katholizismus begeistert: „Der päpstliche Segen ,Urbi et orbi’, den die Oma immer im Fernsehen angesehen hat, hat mich fasziniert. Schon als Kind.“ Aber es war ein langsamer Prozess – erst mit Anfang 40 wird er katholisch.

Die Oma und die Eltern sterben, auch der Bruder und die Schwester – irgendwann lebt Jürgen Fach ganz allein. Wenn die Arbeitskollegen vom Krankenhaus mit ihm weggehen wollten, „habe ich die Augen verdreht, fand ich nicht so dolle“. Das geistliche Leben indes reizt ihn von Jugend an. Er nimmt an Exerzitien teil. Schon damals lebt er eine Art „Einsiedlerleben“.

Als ihn eine Ordensfrau auf die Gemeinschaft der Alexianer aufmerksam macht, ist Fach begeistert. Eine Gemeinschaft, die vor allem in der Krankenpflege tätig ist, das schien wie gemacht zu sein für ihn. Er tritt ein, doch nach sechs, sieben Jahren trennen sich die Wege. Bruder Damian nimmt Kontakt auf zur Eremiten-Bruderschaft in Bad Abbach. Dort ist die Einsiedelei Frauenbründl seit über 300 Jahren die „Mutterklause“ der Kongregation der Eremiten. Ob er sich nicht die Klause in Nußdorf anschauen wolle, fragt ihn der Altvater. „Nußdorf? Wo liegt’n das?“, fragt Bruder Damian.

Es liegt ein halber Meter Schnee, als der Eremit im Dezember 2018 in Sandalen in Oberbayern ankommt. „Das war herrlich“, erinnert er sich lachend. Als er die Kirche und die Klause im Wald zum ersten Mal sieht, „war das Liebe auf den ersten Blick“. Das ist bis heute so. Seine grauen Filzpantoffeln stehen ordentlich unter der Holzbank am Kachelofen, an den Wänden hängen Kruzifixe und Rosenkränze. Geheizt wird im Winter mit Holz, es gibt Strom und fließendes Wasser.

Ein Eremit muss selber machen, sagt Bruder Damian. Daher sei es wichtig, wenn man das Arbeiten gelernt hat. Ob kochen, backen, Wäsche waschen, Kirche putzen oder Altardecken bügeln – alles gehört zu seinen Aufgaben. „Der Eremit lebt von seinen eigenen Händen“, sagt der 62-Jährige, der auch eine halbe Stelle als Mesner im Dorf hat.

Bruder Damian mag ein Eigenbrötler sein, aber er hat ein offenes Ohr für die Nöte anderer. Schon als er noch Krankenpfleger war, schütteten ihm die Menschen ihr Herz aus. „Ein Eremit sollte sich nicht zum Beten in seiner Klause verstecken“, sagt er denn auch. Wenn er freitags um 15 Uhr die Sterbestunde Jesu betrachten will und kurz vorher ein verzweifelter Mensch anklopft, „kann ich ihm ja nicht sagen, dass er erst eine Stunde warten soll. Der Herrgott hat Verständnis dafür.“

Der Einsiedler von Nußdorf steht mit den Vögeln auf – morgens um vier, halb fünf. Nach den ersten Gebeten wird die Kirche aufgeschlossen. Dann gibt es einen Kaffee, dabei hört er Radio, um sich einen Überblick über die Weltlage zu verschaffen. Konflikte, Kriege, Hungersnöte – alles fließt in seine Morgengebete ein. Nach der Laudes werden die Vögel gefüttert – auch sie haben Namen: Alfred, der Amselmann, die Buntspechte Kunibert und Elvira und Eichelhäher Elsa kommen täglich vorbei.

Im Sommer zieht es häufig Urlauber den Fußweg herauf. „Wenn ich sehe, dass da eine größere Gruppe kommt, dann gehe ich raus und frage, ob sie sich das alles anschauen wollen.“ Bruder Damian führt sie bei Bedarf durch die Kirche. Die meisten werfen nur einen Blick in die Kirche. Wenn er aber das kleine Fenster an der Haustür geöffnet hat, schauen auch schon mal neugierige Wanderer herein, weil sie sehen wolle, „wie so ein Eremit wohl aussieht“.

Obgleich Bruder Damian ein freundlicher Zeitgenosse ist, geht ihm einiges doch zu weit. Es kommt vor, dass jemand mit gezückter Kamera an der Tür klingelt: „Darf ich Sie mal fotografieren – und peng.“ Am meisten ärgert er sich aber über Mountainbiker, die mit dem Rad zwischen Klausur und Kirche durchrasen. Nachmittags kommen Menschen zum Gespräch – mal angemeldet, mal spontan. Selbst aus München reisen sie an, um bei ihm ihr Herz auszuschütten. „Sie wissen, dass alles mit ins Gebet genommen wird. Das ist für sie ganz wichtig.“

Die Gebete, die Arbeit und das Zuhören bestimmen den Tagesablauf des Einsiedlers. Aber noch etwas gehört untrennbar zu seinem Leben: das Schweigen. „Heute machen wir mal eine Ausnahme“, sagt er lachend. Aber im Ernst: Mit sich allein sein kann Bruder Damian gut. Wenn sich die Abenddämmerung über die Lichtung senkt, wird es ruhig im Kirchwald. Nach dem Abendgebet nimmt Bruder Damian seine einzige Mahlzeit zu sich. Mal Königsberger Klopse – natürlich selbst gemacht mit Mehlschwitze, Kapern, Zitrone und saurer Sahne. Oder er brät sich einen Fisch. Dann setzt er sich draußen auf die Bank und meditiert.

Während sich die Vögel langsam verabschieden, kommen die größeren Tiere aus dem Wald. Rehe, die Wiesel Max und Moritz. „Es hat nichts mit Romantik zu tun“, stellt Bruder Damian aber klar. „Man hat sich selber jeden Tag am Hals, hat ganz viele Anfechtungen innerlich auszutragen.“ Wenn die Menschen sagten: Es sieht hier alles so romantisch aus – „nein, das ist es nicht, kann ich Ihnen sagen.“ Und trotzdem ist es für ihn oben in seiner Einsiedelei wunderschön. Selbst im Winter. Erstens hat der Eremiten-Bruder inzwischen passende Wanderschuhe, außerdem bringen ihm die Nußdorfer notwendige Lebensmittel mit dem Auto hoch, wenn es eng wird. Einen echten weltlichen Notfall gab es bislang nicht – und für den Fall der Fälle hat der Eremit von heute sogar ein Handy.

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