München – „Legoland“ nennen Siemens-Mitarbeiter das Forschungszentrum im Südosten Münchens. Die Gebäude stammen aus den 70er-Jahren, die Konzernführung hatte damals die Datentechnik für sich entdeckt. Im Stadtteil Neuperlach entstand für die jungen Forscher ein futuristischer Gebäudestapel – eine Architektur aus bunten Legosteinen.
Was kaum jemand ahnt: Im „Legoland“ versteckt sich eine Lagerhalle, in der ein Historiker das Sagen hat. Wüsste man nicht, dass Florian Kiuntke Chef des Siemens Historical Institutes ist, könnte man annehmen, dass er regalmeterweise Elektroschrott verwaltet. Nutzlos gewordene Computer, Wählscheibentelefone, Siemens-Handys, aber auch Miniaturmodelle von Atomkraftwerken füllen das Lager. 175 Jahre Industriegeschichte auf wenigen Quadratmetern.
10 000 Exponate aus allen Siemens-Sparten füllen die Halle, alle nummeriert und katalogisiert. Für Kiuntke und sein Team aus Historikern sind die Seekabel, Bügeleisen und Stromgeneratoren Forschungsobjekte, die erzählen, wie Siemens zu dem wurde, was es heute ist: ein Weltkonzern. Siemens hat Industrien geformt und mit Elektrotechnik das Leben von Millionen Menschen rund um den Globus verändert. Heute zählt Deutschland zu den größten Exportnationen.
Kiuntke sagt: „Ich glaube, dass Siemens bis heute einen ganz speziellen Geist hat, der sich aus der Gründung des Unternehmens speist: Das ist das Tüfteln, das Erfinden.“
Vor 175 Jahren tüftelt Werner Siemens an einem Zeigertelegrafen. Binnen kurzer Zeit sollen Nachrichten hunderte Kilometer Distanz zurücklegen – statt tagelang von berittenen Boten transportiert zu werden. Um die Tüftelei marktfähig zu machen, kooperiert Werner Siemens mit dem Feinmechaniker Johann Georg Halske. Am 1. Oktober 1847 unterzeichnen sie den Gesellschaftervertrag, wenige Tage später nimmt ihr Start-up mit zehn Mann als „Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske“ den Betrieb auf.
Bis heute markiert der 1. Oktober den Beginn des Geschäftsjahrs der heutigen Siemens AG. Das gilt auch für die drei aus Siemens hervorgegangenen Dax-Unternehmen – Siemens Healthineers, Siemens Energy und Infineon. Medizintechnik, Kraftwerkstechnik, Halbleiter.
Dass Siemens schon in allen möglichen Gebieten der Elektrotechnik aktiv war, liegt auch am umtriebigen Firmengründer. „Siemens war Unternehmer“, sagt Kiuntke. „Er wollte, dass seine Ideen einen Nutzen haben.“
Aus dem Geschäft mit Telegrafen geht die gesamte spätere Informationstechnik des Siemens-Konzerns hervor – angefangen von Telefonen und Faxgeräten bis hin zu Computern und Handys.
1866 tüftelt Werner Siemens an einer neuen Dynamomaschine. Die folgende industrielle Fertigung der Dynamos in Berlin beschleunigt die Elektrifizierung. Große Teile Europas erhalten erstmals Strom. Noch Jahrzehnte später prägt die Kraftwerks-technik den Konzern – angefangen von Reaktoren für Kernkraftwerke, Turbinen und Generatoren für Kohle-, Gas- und Wasserkraftwerke bis hin zu Windanlagen.
Der Strom, der auf einmal in der Welt ist, macht das Leben bequemer: Über viele Jahre produziert Siemens auch Waschmaschinen, Staubsauger und Backöfen. Vom Geschäft mit Haushaltsgeräten hat sich der Konzern schon vor Jahren verabschiedet. Geblieben ist der Markenname, mittlerweile vertreibt die Bosch-Tochter BSH Hausgeräte einen Teil ihrer Produkte mit dem Siemens-Logo.
Andere Erfindungen von Werner Siemens sind bis heute Teil des Kerngeschäfts. 1879 setzt Siemens einen Elektromotor auf ein Fahrgestell, den Kasten mit vier Rädern setzt er auf Schienen. Auf der Gewerbeschau in Berlin verblüfft der Erfinder das Publikum mit dem Vorläufer einer elektrischen Eisenbahn – der Grundstein für die noch heute existierende Sparte Siemens Mobility. Ihr prominentestes Produkt: der ICE der Deutschen Bahn. Im frühen 20. Jahrhundert sind sogar Autos für kurze Zeit ein Teil des Siemens-Geschäfts, sowohl Elektrofahrzeuge als auch Verbrenner. Heute schmücken sie das Depot der Historiker in Neuperlach.
Mit weiteren Prachtstücken dieser Art ist vorerst nicht zu rechnen: Der aktuelle Siemens-Chef, Roland Busch, setzt verstärkt auf digitale Produkte und Dienstleistungen. Kiuntke sagt: „Für uns Historiker ist die Digitalisierung natürlich eine Herausforderung, aber auch eine Chance.“ Noch sei aber unklar, wie etwa Industriesoftware archiviert werden soll.
Die Digitalisierung ist aber nicht mehr aufzuhalten: Viele Ingenieure und Entwickler werden schon bald das „Legoland“ in Neuperlach verlassen und nach Garching ziehen. Hier, im Landkreis München, ist rund um die TU München eine Start-up-Szene entstanden, die etablierte Konzerne aus aller Welt anlockt. Im kommenden Sommer will Siemens in Garching ein „Technology Center“ für 600 Forscherinnen und Forscher eröffnen. Nach 175 Jahren soll der Erfindergeist von Werner Siemens eine weitere Heimat finden – unter neuen technologischen Voraussetzungen.