München – Wer Spiele mag, hat sicher schon mal ein Spiel von Reiner Knizia gespielt. Der Münchner ist einer der erfolgreichsten Spieleerfinder in Deutschland. Mehr als 700 seiner Ideen haben Verlage bereits umgesetzt. Er verrät, was ein gutes Spiel ausmacht, wo er seine Ideen hernimmt – und warum ihm sein Mathematik- und Physikstudium beim Spieleerfinden manchmal eine Hilfe ist.
Was ist Ihr Lieblingsspiel?
Die 700 Spiele, die ich veröffentlicht habe, sind alle meine Kinder. Ich kann unmöglich einen Liebling nennen. Die Herausforderung jeder kreativen Arbeit ist aber, sich nicht zu sehr in seine Werke zu verlieben. Man muss erkennen können, wenn etwas kein Potenzial hat. Ein Spiel ist aber auch nie etwas Absolutes. Es hängt immer auch von der Atmosphäre und den Mitspielern ab.
Können Sie noch nur zum Spaß spielen – oder denken Sie immer analytisch?
Ich spiele fast ausschließlich, um Prototypen zu entwickeln. Ich habe eine ganze Reihe von Testern und Spielbegeisterten um mich, die oft etwas mitbringen, das sie mir zeigen wollen. Aber selbst dann spiele ich nicht nur zum Spaß. Ein Spiel muss aber immer Spaß machen.
Was macht ein gutes Spiel aus?
Es gibt nicht das Erfolgskonzept für ein gutes Spiel, eine große Rolle spielt ja auch der persönliche Geschmack. Und die Vorlieben ändern sich: Heutige Spiele sind anders als die vor 30 Jahren. Ein einfacher Zugang ist wichtig, niemand will Seiten lang Regeln lesen. Man muss intuitiv verstehen können, um was es geht. Wichtig ist auch, dass ein Spiel eine gute Dynamik hat. Klassische Spiele wie Schach gehen ganz langsam los – das funktioniert heute nicht mehr. Würde man Schach heute erfinden, hätte es keine Chance mehr. Unsere Zeit ist dafür zu kurzlebig. Deshalb muss es in den Spielen zur Sache gehen.
Machen Sie sich manchmal Sorgen, dass analoge Brettspiele im Computer-Zeitalter irgendwann verschwinden?
Nein, überhaupt nicht. Heute hat ja jeder mit dem Handy immer viele Spiele in der Tasche. Aber das ist etwas ganz anderes, als gemeinsam an einem Tisch zu sitzen und zu spielen. Das haben wir ja alle in der Pandemie gemerkt. Konferenzen per Video ersetzen kein persönliches Gespräch. Natürlich kann man auch tief in eine Computersimulation einsteigen, aber es ist was anderes, als mit Freunden am Tisch zu spielen und ihnen dabei in die Augen sehen zu können. Natürlich kommt es aber auch in den Spielen an, dass unsere Welt immer digitaler wird. In der Art der Präsentation – zum Beispiel durch Spielpläne, die man nicht mehr ausgedruckt hat, sondern auf einem Tablet hochladen kann. Aber wir spielen immer noch zusammen und es bleiben physische Spiele.
Sind Sie in einer Familie aufgewachsen, in der viel gespielt wurde?
Nein. Meine Eltern haben immer gesagt, ich solle lieber mit meinen Freunden spielen. Aber ich war immer spielbegeistert. Ich bin in Illertissen aufgewachsen. Dort gab es in meiner Kindheit nur beim Friseur eine Spiele-Ecke. Also hat mich meine Leidenschaft schon mit 7 oder 8 zum Spieleerfinder gemacht. In meinen ersten Spielen ging es um Ritterburgen. Man hat gewürfelt und versucht, die Burg des anderen zu stürmen. Die Idee war noch nicht robust genug, um in die Welt entlassen zu werden. Aber das war ja damals auch nicht mein Plan.
Inzwischen haben Sie sich über 700 Spiele ausgedacht. Wo nehmen Sie die vielen Ideen her?
Ideen zu finden, war noch nie mein Problem. Es ist eher ein Fluch, dass ich so viele habe (lacht). Wenn man offen durch die Welt geht, findet man überall Ansätze. Ich spiele ja viel mit Testern, stelle Fragen und versuche herauszufinden, was sie reizt. Die Herausforderung ist eher, aus einer Idee ein marktreifes Produkt zu machen.
Wie lang dauert es, bis aus einer Ihrer Ideen ein Prototyp wird, den Sie guten Gewissens an einen Verlag schicken können?
Das kann mal sehr schnell gehen und sechs Monate dauern. Realistischer ist ein Jahr. Manchmal bleibt eine Idee auch über mehrere Jahre liegen, ich arbeite immer an vielen Spielen gleichzeitig. Ich entlasse ein Spiel erst in die Welt, wenn ich überzeugt bin, dass es perfekt ist.
Wann wissen Sie das?
Wenn es Spaß macht – darum geht es beim Spielen. Als Spieleerfinder packt man Unterhaltung in Schachteln. Ein Spiel ist gut, wenn es die Zielgruppe immer wieder spielen will. Natürlich profitiere ich mittlerweile auch von meiner Erfahrung. Fußballspiele zum Beispiel haben kaum eine Chance, erfolgreich zu werden. Sport hat eine andere Dynamik, das wird als Brettspiel zu verkopft. Manchmal erlebe ich aber auch Überraschungen. Mein kleines Lama-Kartenspiel zum Beispiel ist ganz einfach, trotzdem wurde es zum Spiel des Jahres nominiert.
Wie machen Sie aus einer Idee einen Prototyp?
Ich schließe die Augen und stelle mir die Spielsituation vor. Neben mir sehe ich andere Spieler, ich frage mich, was sie fühlen und was ich fühlen will – die Spannung und den Nervenkitzel. Natürlich denke ich auch über Abläufe und Materialien nach. Viele Ideen sterben nach zehn Minuten wieder. Wenn es ernsthafter wird, geht eine Entwicklungsphase über viele Stunden, dazu gehören Diskussionen mit den Testern. Dann entwickle ich einen Prototyp, damit wir spielen können. Manchmal schreibe ich auch Regeln, bevor ein Spiel jemals gespielt wurde – das strukturiert. Oft passiert es, dass sich ein Spiel in meinem Kopf wunderbar spielt und in der Realität erlebt man sein blaues Wunder. Ich mache oft den Fehler, dass ich mich zu sehr in mein Hirnprodukt verliebe.
Wie können Sie die vielen Ideen, an denen Sie gleichzeitig arbeiten, im Kopf behalten?
Mit Schubladen. Früher waren es rund 50, seit Corona sind es 100. In jeder liegt eine Spiele-Idee. Das Auswahlkriterium ist, was am meisten Spaß macht. Ich spiele mit den Testern jeden oder jeden zweiten Tag drei bis vier Stunden, dafür ziehe ich natürlich die heißesten Ideen raus. Manche Schubladen habe ich Monate nicht mehr aufgemacht.
Sie sind Mathematiker. Hilft Ihnen die Naturwissenschaft beim Spiele-Entwickeln oder hemmt sie den kreativen Prozess?
Es gibt viele Wissenschaftler, die gerne spielen. Die Naturwissenschaft hilft dabei, Modelle zu bauen. Jeder Spiele-Entwickler hat seine eigene Handschrift. Die einen erzählen Geschichten, die anderen versuchen, Überflüssiges zu reduzieren. Ich versuche so wenige Regeln wie möglich vorzugeben, die Spieler sollen frei agieren. So kann ein Spiel immer anders verlaufen, je nachdem, wer spielt.
Wie schmerzlich sind für Sie negative Rezensionen?
Man gewöhnt sich daran. Am Anfang habe ich noch sehr darauf geschaut und mich manchmal ungerecht behandelt gefühlt. Inzwischen verfolge ich nicht mehr alle Rezensionen. Schön finde ich, dass es unter uns Spiele-Entwicklern kein Konkurrenzdenken gibt. Wir tauschen uns aus und gönnen uns Erfolge – der Markt ist groß genug.
Gibt es ein Spiel, das Sie rückblickend lieber nicht erfunden hätten?
Gott sei Dank habe ich nie Spiele gemacht, zu denen ich nicht stehen kann. Aber es gibt Spiele, die hatten ihre Zeit und sind heute nicht mehr so relevant. Eine ganze Reihe von Klassikern aus den 90ern werden aber immer noch nachgefragt. Zum Beispiel „Tutanchamun“ oder „Euphrat & Tigris“. Ich finde aber, Spiele dürfen altern.
Was macht das Spielen für Sie so wertvoll?
Die Herausforderung, mich auf etwas einzulassen, neue Welten auszuprobieren und das mit anderen zu erleben. Bei einem guten Spiel gewinnen auch die Verlierer, da geht es um mehr. Um die Emotionen zum Beispiel. Ich
bin überzeugt, wenn die Menschen miteinander spielen, tun sie etwas Gutes. Die Hautfarbe, die Religion oder das Alter spielen keine Rolle, alle sind gleichberechtigt. Man kann nichts Schöneres für den Weltfrieden tun, als miteinander zu spielen.
Interview: Katrin Woitsch