Die Schwestern von Birkenstein machen Schluss

von Redaktion

VON CARINA ZIMNIOK

Birkenstein – Der Gerettete klingelt um kurz vor 12. Draußen tröpfelt es aus einem steingrauen Himmel, drinnen im Kloster Birkenstein bei Fischbachau im Kreis Miesbach ist es still. Schwester Eresta, 85, ist allein daheim, sie öffnet die Holztür. Vor ihr steht ein Mann. Seine Stirn und seine linke Wange zerschnitten von Narben. „Du bist der Josef“, sagt Eresta. „Ja genau“, sagt der Mann.

Josef ist 42. Ein betrunkener Autofahrer rammt ihn 2004 frontal, Josef liegt mehrere Wochen im künstlichen Koma. Der wird nicht mehr, sagen die Ärzte. In der Zeit pilgern seine Eltern, seine Verwandten nach Birkenstein. Von ihrem Dorf bei Kufstein, Österreich, aus, mehr als vier Stunden zu Fuß. Immer wieder. Sie beten, sie flehen die Mutter Gottes an. Mach unseren Josef wieder gesund. Josef schafft es. 2005 fährt er nach Birkenstein, er trägt eine große Kerze in die Kapelle. Humpelnd, aber auf eigenen Füßen. Die Kerze steht noch dort, hinten am Fenster.

Heute schaut er sie sich zusammen mit Eresta an. „Danke, dass du unserem Josef geholfen hast“, liest sie vor. Er nickt. Dann geht er raus zu seinen Verwandten. Als Josef wieder weg ist, sagt Schwester Eresta, die Oberin der Armen Schulschwestern in Birkenstein: „Die Menschen brauchen Tradition. Wir sind Tradition. Wie schlimm wäre es für Josef gewesen, wenn ich ihn nicht erkannt hätte.“ Aber die Tradition der Ordensfrauen hat ein Ende, in weniger als zwei Wochen schon.

Seit 173 Jahren sind die Armen Schulschwestern hier, sie haben im Kloster gelebt, sich um die Kapelle gekümmert und um die Wallfahrer. 700 bis 800 Messen im Jahr, 40 bis 50 Wallfahrten mit dem Bus, ähnlich viele zu Fuß. Zur heiligen Messe am Sonntag kommen bis zu 400 Gläubige, jede Woche. „Das hat keine andere Kirche“, sagt Eresta. Am 30. Oktober wird Kardinal Reinhard Marx einen Abschiedsgottesdienst feiern, dann verlassen die letzten Schwestern – Eresta Mayr, Irmgard Hagn, Theofrieda Suttner – das Kloster. Sie sind die letzten, weil es keinen Nachwuchs gibt. Es wird wohl eine neue Ordensgemeinschaft einziehen, die sich dann um die Wallfahrer kümmert. Details sind noch geheim. Fragt man Eresta, ob sie Birkenstein, ihre Mitschwestern vermissen wird, sagt sie: „Das kann schon sein.“ Dann schaut sie aus dem Fenster auf den hölzernen Freiluft-Altar, an dem sie schon so oft stand.

Sie hat Josef einen kleinen Zettel mitgegeben, mit ihrer neuen Adresse in Bad Tölz. Dort wird Eresta ab November wohnen. Von ihrem Zimmer wird sie auf die Natur blicken, das war ihr wichtig. Wenn sie jetzt aus dem Büro schaut, sieht sie den Kalvarienberg mit drei großen Kruzifixen.

63 Jahre hat Eresta, eine kluge Frau mit feiner Brille und klarer Stimme, in Birkenstein gelebt. Mit 16 sagt sie daheim auf dem Hof bei Niklasreuth zu ihrer Mama: „Ich möchte eine Schwester werden.“ Und die Mama, die ihre vier Kinder nie aus dem Haus gehen lässt, ohne ihnen mit Weihwasser ein Kreuz auf die Stirn zu zeichnen, sagt: „Gut, dann gehen wir zum Pfarrer.“ Sie hat gespürt, sagt Eresta heute, dass Jesus das will. „Ich wollte mit Jesus leben.“ Bereut hat sie das nie. Aber leicht war es auch nicht immer.

Erst ist sie in München, nach ihrem Noviziat und ihrer Ausbildung zur Handarbeitslehrerin wird sie nach Birkenstein versetzt, nur zehn Kilometer von daheim entfernt. Hier war sie schon als Kind, mindestens einmal im Sommer. Mit 22 steigt sie beim Oberwirt unten in Fischbachau aus dem Bus und die Mitschwester, die sie abholt, fragt noch vor dem „Grüß Gott“, ob sie gut singen kann. Oben in der Kapelle ist gerade heilige Messe. „Ich habe nie gedacht, dass ich so lange bleibe“, sagt Eresta.

Als junge Ordensfrau verkauft sie im Klosterladen Souvenirs, Heiligenbilder, Rosenkränze. 24 Jahre lang. Aber sie wollte keine Verkäuferin sein, sie wollte zurück an die Schule, als Handarbeitslehrerin unterrichten. Zwischendrin, da ist sie 36 oder 37, merkt sie: Der Zug ist abgefahren. „Midlife Crisis“ nennt sie es heute. Sie fühlt sich wie ein Schäflein im Dornbusch, bittet einen Priester um Hilfe. Der zieht ihr behutsam eine Dorne nach der anderen aus dem geschundenen Leib, das ist das Bild, das sie von ihrer Lage damals abgespeichert hat. Danach weiß sie, alles ist gut, so wie es ist. Später wird sie Mesnerin mit einer unglaublichen Liebe zum religiösen Dienst, zum Singen, zur sakralen Kunst. Ihre Kapellenführungen sind legendär. Weil sie so viel weiß, über die vielen Details, und so gut erzählen kann.

Als die Schwestern vor drei Jahren beschließen, dass ihre Zeit auf Birkenstein ein Ende hat, sind sie noch zu viert. Lucilla stirbt im November 2021 an Corona, kurz nach ihrem 80. Geburtstag. Schwester Eresta sagt, sie waren sich einig. „Wir wollten übergeben, wenn wir noch übergeben können. Damit die Leute sagen ,schade‘ und nicht: ,Jetzt haben sie es kapiert.‘“

Eresta geht jetzt ins Esszimmer, dort tischt Schwester Irmgard jeden Tag um 11.30 Uhr das Mittagessen auf. Heute wird es bloß Würstl geben, Irmgard ist mit Theofrieda beim Augenarzt. An dem großen Esstisch hätten zwölf Personen Platz. „Den zweiten Tisch haben wir weggeschoben“, sagt Eresta, sie haben ihn nicht mehr gebraucht. 1945 lebten einmal 20 Ordensfrauen hier, die Schlafplätze waren knapp, das Essen auch. Mehr Frauen waren es nie. Die Arbeit, die hier in Birkenstein anfällt, wird jetzt einfach zu viel. „Wir tun zu dritt, wofür wir sechs sein müssten“, sagt Eresta.

Sie steht nicht gerne auf, aber um 6 steigt sie schon die steile Treppe zur uralten Kirchenuhr hinauf und zieht sie auf. Danach ist sie in der Kapelle, im Büro, im Beichtzimmer oder in der Sakristei. Dort hängen Votivtafeln an der Wand. Gläubigen, die eine Tafel abgeben wollen, gibt Eresta die Größe vor, damit alles zusammenpasst. „Es ist eine Ordnung“, sagt sie. „Das ist mir wichtig.“ Sie lacht und erzählt, wie der Bayerische Rundfunk einmal eine Messe im Fernsehen übertragen hat. Den Fotografen schaffte sie an, sich ordentlich anzuziehen. „Die können ja nicht in der Jeans kommen, wenn die Leute ihr Festgewand tragen“, sagt sie. Ordnung muss sein. Dann rückt sie einen schiefen Bilderrahmen zurecht.

Eine Tafel zeigt eine Szene am Berg, Rettungskräfte tragen einen Verletzten. Ein schwerer Bergunfall, der junge Mann wurde mit Wärmebildkamera gesucht und halb tot gefunden. Er hat überlebt, die Tafel ist von 2021, die Familie dankt damit Maria für „ihre Hilfe in Lebensgefahr“. Daneben eine Tafel mit der Aufschrift „Maria hat geholfen – Corona 2020“. Eresta zeigt auf die Wand und sagt: „Das alles hier ist Gegenwart.“ Die Kirche mag Mitglieder verlieren, weniger Wallfahrten sind es nicht geworden in Birkenstein. Im Gegenteil. Zwei Wallfahrten sind eingeschlafen, dafür sind zehn neue dazugekommen, sagt Eresta.

Vielleicht ist es das, was Birkenstein so wichtig macht für die Menschen. Sie brauchen einen Ort für ihre Dankbarkeit, für ihre Zweifel, für ihre Trauer, ihren Schmerz. Und zu dem Ort gehörten so lange die Ordensfrauen. Bis 1966 war das Kloster auch noch Schulhaus, die Kinder aus Fischbachau kamen hierher. Als im Ort eine Schule gebaut wurde, gingen die Schwestern runter und unterrichteten. Bis 2005 war das so, Schwester Theofrieda zum Beispiel gab Handarbeits- und Hauswirtschaftsunterricht. Danach drehte sich alles nur noch um die Wallfahrt.

Die unvergleichlich schöne Kapelle, 1710 auf einem Fels errichtet, eine Nachbildung des „Heiligen Hauses“, in dem die Familie Jesu in Nazareth lebte, bleibt natürlich. Aber für viele wird sie nicht mehr dieselbe sein, wenn nicht Eresta die Hostien verteilt. Oder Trost spendet, wie vor einigen Jahren, als ihr eine Frau auffiel. Verzweifelt saß sie auf der schmalen Bank vor dem Altar, Eresta ging zu ihr. „Ich habe ihr die Hand auf die Schulter gelegt und bin wieder gegangen, ohne ein Wort“, erzählt die Oberin. Sie spürte, dass das reicht. Ein paar Wochen später kam die Frau zurück und sagte Danke. „In dem Moment wusste ich“, erzählte sie Eresta, „dass alles gut wird.“

Wie wird das neue Leben der Schwestern? Irmgard und Theofrieda gehen nach Dorfen im Kreis Erding, Eresta nach Bad Tölz. Jeweils in Einrichtungen des Ordens. Besuchen können sie sich nicht einfach, das sieht das Leben einer Ordensfrau nicht vor, nicht mal in der Rente.

Schwester Eresta wäre früher gerne gereist. Nicht, um fremde Städte zu sehen oder Berge und Seen. Aber um die Kunst in den Kirchen Bayerns und Österreichs zu bewundern. Sie hätte ab und zu auch gerne einen Tag freigenommen, um in die Berge zu gehen. Das ging nicht, Leben im Kloster heißt sieben Tage die Woche Arbeit. Zwei Mal durfte sie nach Rom, die 14 Tage Urlaub im Jahr verbrachte Eresta bei ihren Eltern und ihren Geschwistern. „Früher hat mich das gestört, heute nicht mehr.“ Sie freut sich jetzt auf ruhigere Zeiten, auf Zeit für sich. Auch wenn der Auszug noch stressig ist. Die Ordensfrauen müssen leere Regale hinterlassen, in manchen Ecken stehen schon gepackte Kartons, vieles haben sie neulich auf dem Flohmarkt im Nachbardorf verkauft.

Auf dem kleinen Stück Garten vor der Pforte ist ein abgeschnittener Baumstamm. Die Linde, die dort einmal stand, haben die Armen Schulschwestern gepflanzt, als sie vor 173 Jahren eingezogen sind. Heuer mussten sie die Linde fällen. „Sie hat es genauso lange ausgehalten wie wir“, sagt Schwester Eresta und zeigt auf den Stumpf. Ihre Stimme klingt ein bisschen wehmütig, aber nicht traurig.

Dann fährt ein Auto die Auffahrt herauf. Die Schwestern kommen heim vom Arzt, gleich essen sie. Ein paar Tage haben sie noch zusammen.

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