Cherson/Moskau – Acht Monate nach dem Einmarsch in die Ukraine hat der russische Präsident Wladimir Putin in mehreren kürzlich annektierten Gebieten im Nachbarland den Kriegszustand verhängt. Ein entsprechendes Dekret habe er bereits unterschrieben, sagte Putin am Mittwoch bei einer im Staatsfernsehen übertragenen Rede im nationalen Sicherheitsrat. Nun müsse noch die Staatsduma zustimmen – was aber als reine Formsache gilt.
Mit dem bereits an diesem Donnerstag in Kraft tretenden Kriegsrecht gehen erweiterte Machtbefugnisse für die russischen Besatzungsverwaltungen in den ostukrainischen Gebieten Luhansk, Donezk sowie in Cherson und Saporischschja im Süden einher. So gelten etwa eine Sperrstunde und Militärzensur; es werden Checkpoints eingerichtet und Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt, wie der russische Menschenrechtsanwalt Pawel Tschikow erklärt. Möglich seien auch Festnahmen bis zu 30 Tagen, die Beschlagnahme von Eigentum, die Internierung von Ausländern sowie Reisebeschränkungen für russische Staatsbürger ins Ausland. Auch Zwangsarbeit in Rüstungsbetrieben soll möglich sein.
Ungeachtet dieser drastischen Maßnahme nannte Putin die Kämpfe gegen das Nachbarland weiter nur eine „militärische Spezial-Operation“. Der Kremlchef begründete den Schritt damit, dass die Ukraine die Ergebnisse der im September abgehaltenen Abstimmungen über einen Beitritt zu Russland nicht anerkenne. Rückeroberungsversuche der Ukraine seien Angriffe auf russisches Staatsgebiet.
Die Verhängung des Kriegsrechts ändere nichts, twitterte der Berater des ukrainischen Präsidentenbüros, Mychajlo Podoljak. Der Schritt sei eine „Pseudolegitimierung der Plünderung des Eigentums der Ukrainer“. Am Mittwoch meldeten die russischen Besatzer bereits ukrainische Angriffe auf das Gebiet Cherson. Am Morgen hatte der Vizechef der Besatzungsverwaltung, Kirill Stremoussow, mitgeteilt, die ukrainische Armee habe zehntausende Soldaten an der Front im Süden zusammengezogen. Zivilisten wurden zur Flucht aufgerufen. Auch die Besatzungsverwaltung sollte auf das linke Ufer des Flusses Dnipro verlegt werden. Von ukrainischer Seite gab es zunächst keine schlüssigen Angaben über eine Offensive im Süden. Der Chef des ukrainischen Präsidentenbüros, Andrij Jermak, warf den russischen Besatzern vor, die Menschen in Cherson durch „gefälschte Nachrichten“ über ukrainische Angriffe einschüchtern zu wollen.
Die Ukraine berichtete ihrerseits von russischen Angriffen hinter der Front, so etwa im Gebiet Winnyzja. Auch in Kiew waren Explosionsgeräusche zu hören. Die ukrainischen Streitkräfte erklärten, Russland habe vom Gebiet seines Verbündeten Belarus aus Raketen und Kampfdrohnen Richtung Kiew abgeschossen.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wertete die russischen Attacken auf die Energieversorgung als Kriegsverbrechen: „Gezielte Angriffe auf zivile Infrastrukturen […] sind reine Terrorakte.“ Gerade jetzt müsse man der Ukraine weiter beistehen. Die EU brachte gestern weitere Sanktionen gegen den Iran auf den Weg, weil dieser Russland Drohnen für Angriffe auf die Ukraine geliefert haben soll. Dafür habe man nun genügend Beweise gesammelt, sagte eine Sprecherin des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell. Die Sanktionen sollen Personen und Organisationen treffen, die für den Bau und die Lieferung iranischer Drohnen an Russland verantwortlich sind. Ihnen drohen Einreiseverbote und Vermögenssperren. dpa