Herr Fuest, die IG Metall fordert gerade acht Prozent mehr Lohn, Verdi sogar 10,5 Prozent mehr. Bis zu welcher Höhe sind Lohnforderungen noch angemessen?
Was gefordert wird und auf was man sich am Ende einigt, sind immer zwei Paar Stiefel. Lohnforderungen sind meist höher als es die Lohnabschlüsse sind. Und die Tarifpartner in Deutschland haben in der Vergangenheit gezeigt, dass sie sich ihrer Verantwortung durchaus bewusst sind. Aber aus meiner Sicht ist Differenzierung nötig, denn nicht in jeder Branche kann es hohe Lohnerhöhungen geben.
Viele Unternehmen beteuern, dass sie durch hohe Energie- und Einkaufspreise selbst stark von der Inflation betroffen sind und keine höheren Löhne zahlen können. Gibt es Branchen, in denen Lohnzurückhaltung nötig ist?
Ein Beispiel dafür ist die Chemiebranche. Teile der Branche sind sehr energieintensiv, haben also gerade hohe Kostensteigerungen. Dennoch haben einige Unternehmen dort gut verdient. Der jetzige Tarifabschluss in der Chemie bringt spürbare Lohnerhöhungen, aber auch insgesamt 3000 Euro an Einmalzahlungen. Die Lohnerhöhungen liegen mit insgesamt 6,5 Prozent dennoch deutlich unterhalb der Inflation. Das ist angesichts der Lage ein maßvoller Abschluss.
Und in welchen Bereichen sind stärkere Lohnerhöhungen sinnvoll?
Tarifverhandlungen dienen dazu, die Wertschöpfung der Unternehmen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufzuteilen. Aus höheren Löhnen ergeben sich auch Folgewirkungen für den Arbeitsmarkt. Deshalb sind Lohnerhöhungen in jenen Branchen sinnvoll, in denen Fachkräfte knapp sind.
Droht der Wirtschaft wegen der starken Lohnerhöhungen nun eine Lohn-Preis-Spirale?
Derzeit ist die Inflation noch nicht durch Lohnerhöhungen getrieben. Aber es ist klar, dass es dazu kommen kann, wenn die Lohnerhöhungen sehr hoch ausfallen. Ich halte das aber nicht für sehr wahrscheinlich.
Sind Einmalzahlungen wie in der Chemiebranche denn eine Alternative zu Lohnerhöhungen?
Damit kann man zumindest besser kalkulieren, wenn, wie im Moment, Faktoren wie der Krieg in der Ukraine die Unsicherheit schüren. Da wir gerade nicht wissen, wie die Wirtschaft sich entwickeln wird, ist es sinnvoll, dauerhafte Lohnerhöhungen zu begrenzen und erst einmal stärker auf Einmalzahlungen zu setzen. Verschwinden diese Unsicherheitsfaktoren, sollte man Lohnerhöhungen aber wieder den Vorzug geben. Denn Einmalzahlungen sind kein geeignetes Instrument zum Ausgleich von Inflation. Die Preise sind ja auch dauerhaft höher und nicht nur ein einziges Mal.
Sollte es jetzt keine oder nur geringe Lohnanhebungen geben: Lassen sich Reallohnverluste bis zu zehn Prozent mittelfristig überhaupt wieder aufholen? Oder werden Angestellte dauerhaft Wohlstand einbüßen?
Es wird schwer sein, in der Breite die Wohlstandsverluste aufzuholen, die wir derzeit erleben. Ob wir das schaffen, hängt auch davon ab, wie klug Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft auf die Krise reagieren, ob wir zum Beispiel eine Deindustrialisierung wegen steigender Energiekosten im Vergleich zu anderen Standorten abwenden.
Indirekt gibt es schon Drohungen, dass Produktion ins Ausland verlagert werden könnte, wenn auch noch die Löhne stark steigen. Wird es Abwanderungen geben?
Unternehmen werden immer Kosten im In- und Ausland vergleichen und darauf reagieren. Derzeit steigen die Löhne aber in vielen Ländern, weil Arbeitskräfte knapp sind. Das wichtigste Abwanderungsrisiko sehe ich deshalb momentan nicht bei den Lohnkosten, sondern bei den Energiekosten und der Energiesicherheit sowie mittelfristig in der Fachkräfteknappheit. Aber um den Fachkräftemangel zu lindern, brauchen wir ja eher höhere Löhne, außerdem mehr Aus- und Weiterbildung, Zuwanderung, Reformen des Steuer- und Transfersystems und vieles mehr.
Interview: Andreas Höß