Ein Leben, so bewegt wie die Tagesschau

von Redaktion

Mit Dagmar Berghoff sprach erstmals eine Frau die Nachrichten – heute erscheint ihre Biografie

VON STEFANIE THYSSEN

München – Nein, es ist nicht 20 Uhr. Es ertönt auch kein Gong. Man sieht kein „Tagesschau“-Logo. Es ist allein die samtene Stimme zur Begrüßung am Telefon (Guten Tag und Hallo“), die einen hineinkatapultiert in die Erinnerung an unzählige Abende in den Achtziger- und Neunzigerjahren. Als man daheim auf der Couch saß und zuhörte, wie sie Nachrichten aus aller Welt in deutsche Wohnzimmer brachte: Dagmar Berghoff. Die Stimme der inzwischen 79-Jährigen ist nach wie vor unverwechselbar, ihr „Guten Abend, meine Damen und Herren“ bis heute im Ohr von Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern.

„Guten Abend, meine Damen und Herren“ heißt auch das zauberhafte Buch, das heute erscheint (Verlag Hoffmann und Campe, 22 Euro). Constantin Schreiber, seit 2017 selbst im Team der „Tagesschau“ und seit 2021 auch Sprecher der Hauptausgabe um 20 Uhr, hat es gemeinsam mit Berghoff geschrieben. Es ist ein sehr persönliches Buch, mit langen Interview-Passagen, denen historische Ereignisse nach Jahrzehnten sortiert vorangestellt sind. Es ist traurig und bestürzend, dann wieder komisch und zeigt die Frau hinter dem Lächeln vor der Kamera.

Im Grunde ist es eine sehr originell aufbereitete Biografie, oder? „Ja“, sagt Dagmar Berghoff. „Es gab immer mal wieder Anfragen, eine zu schreiben. Ich fand nur: Ich bin nicht so interessant und habe die Idee deswegen immer weggewischt.“ Aber irgendwie habe Constantin Schreiber sie „mit seiner feinen Art“ dann doch überredet, sodass sie sagte: „Wir probieren es.“ Dann nahm die Sache Formen an – „und irgendwann kam ich aus der Nummer nicht mehr raus“, sagt Berghoff und lacht.

Die Geschichte des Buches beginnt im August 2021. Berghoff liest im „Hamburger Abendblatt“, dass es etwa zehn Frauen gebe, die Constantin Schreiber bewundere. Dazu gehörten Nofretete, Kleopatra, Hannah Arendt – und eben sie. „Ich dachte: Er wohnt in Hamburg, ich wohne in Hamburg, da kann ihm doch geholfen werden“, erzählt Berghoff. Sie besorgt sich seine E-Mail-Adresse und lädt ihn ein: Ob er nicht mal zum Kaffee kommen wolle? Er nimmt gerne an.

„Beim ersten Besuch kam er um zwei oder drei Uhr nachmittags und ist um sieben gegangen“, erinnert sich die Moderatorin. „Dann hat er gefragt, ob er noch mal kommen könnte, weil es wohl so interessant war. Irgendwann hat er gefragt, ob er ein Buch machen könnte aus diesen Gesprächen.“ Schreiber – der anlässlich unseres Anrufs wieder bei Berghoff zu Besuch ist – erinnert sich an das Kennenlernen. „Ich war schon aufgeregt“, sagt er. „Die große Fernseh-Ikone!“ Als er, Jahrgang 1979, seinen Eltern von der Einladung erzählt habe, seien die auch ganz nervös geworden und hätten ihren Sohn ermahnt: „Zieh auf jeden Fall was Ordentliches an!“

Der Gedanke, ein Buch mit oder über seine große Kollegin zu schreiben, sei damals noch nicht da gewesen. Das habe sich erst mit den weiteren Treffen ergeben. Schreiber fragt Berghoff mit der Neugier eines wesentlich jüngeren Kollegen, der für dieselbe Sendung arbeitet – und doch in einer neuen, anderen Medienwelt. Ab Seite 29 sind Berghoff und Schreiber per Du. Zum ersten Mal überhaupt erzählt Berghoff öffentlich davon, dass ihre Mutter sich das Leben nahm, als sie gerade mal sieben Jahre alt war. „Sie war manisch-depressiv und hat sich vor einen Zug geworfen“, sagt Berghoff. Das Verhältnis zu ihren Eltern war zuvor schon geprägt von Ablehnung. „Meine Mutter war der Ansicht, ich sei nach der Geburt vertauscht worden.“ Sie sei ein dickes, nicht sehr hübsches Baby gewesen, mit einer kleinen Fehlbildung an der Hand. Das passte offenbar nicht ins Bild. Die Mutter habe dem Vater ihre Zweifel so lange eingeredet, dass auch er irgendwann glaubte, Dagmar sei nicht seine Tochter. Entsprechend hart seien die Jahre auch nach dem Suizid gewesen. Aufwärts ging es, als der Vater eine neue Frau fand, die Dagmar liebevoll als Stieftochter akzeptierte.

Warum sie gerade jetzt von ihrer dramatischen Kindheit erzählt? „Ich hatte das Gefühl, ich müsste etwas erklären, müsste mich erklären“, sagt die Hamburgerin, die in Berlin geboren wurde. „Ein Leben besteht ja nicht nur aus dem äußeren Schein, in dem alles wunderbar aussieht: schön geschminkt, schön gekleidet, immer strahlend, auf alle Menschen zugehend und beliebt. Ein Leben besteht auch aus tiefsten Tiefen.“ Constantin Schreiber sagt, er sei „sehr überrascht“ über die Offenheit Berghoffs gewesen. „Das ist alles andere als selbstverständlich. Es hat mich berührt und beeindruckt.“ Es habe ihn auch bereichert. „Denn sie ist eine positiv denkende Frau, sie erzählt ja auch, wie sie es geschafft hat, diese Tiefen zu überwinden und weiterzumachen.“

In der Tat. Dagmar Berghoff hat Schicksalsschläge irgendwie doch immer verkraftet. Auch den Tod ihres Ehemanns Peter Matthaes. Er starb 2001, gut ein Jahr, nachdem Berghoff bei der „Tagesschau“ aufgehört hatte. Da war sie 57, er 67. Die beiden freuten sich auf viel Zeit, auf gemeinsame Reisen. Dann erlag Matthaes, selber Spezialist für Darmkrebs und Schilddrüsenerkrankungen, einem besonders tückischen Feind: Bauchspeicheldrüsenkrebs.

Die Trauer habe sie in eine so tiefe Krise gestürzt, dass sie selbst nicht mehr leben wollte, offenbart Berghoff. Ein Zufall verhinderte ihren Selbstmord. Und danach? Rappelte sie sich wieder auf.

Das Buch reiht keineswegs eine Tragödie an die nächste. Es gibt viel, sehr viel Heiteres aus dem Leben von Dagmar Berghoff. Wie sie zur „Tagesschau“ kam zum Beispiel. Sie hatte eine Schauspielausbildung gemacht, war beim Radio in Baden-Baden gelandet und schließlich zum NDR gewechselt, als eines Tages Karl-Heinz Köpcke (Berghoff: „Damals der große Nachrichtenmogul“) anrief. „Das Erste, was er am Telefon sagte, war: ,Sie haben ja eine ganz nette Stimme. Sehen Sie denn auch einigermaßen aus?‘“ Berghoff muss schmunzeln, wenn sie davon erzählt. Da möchte man doch „MeToo“ schreien, oder nicht? Berghoff, die in den Siebzigern gute drei Jahre lang mit dem Regisseur Dieter Wedel liiert war („Ich war die Affäre“), wischt das mit einer großen Lässigkeit weg. „Den Begriff gab es damals natürlich noch nicht. Aber ich musste nie etwas machen, was ich nicht wollte.“ Nach einer kleinen Pause ergänzt sie: „Hätte ich auch nicht.“

Im Buch finden sich Anekdoten, Erinnerungen an ihre Skandal-Kolleginnen Eva Herman und Susan Stahnke (Berghoff diplomatisch: „Man sollte immer die Seriosität der Marke ,Tagesschau’ im Blick haben“), an Begegnungen mit Lady Di in den Achtzigerjahren („Na ja, mir war sie nicht sympathisch“). Sie plaudert über ihre Leidenschaft Fußball („Ich bin natürlich HSV-Fan“), ihre Liebe zu schnellen Autos („Ich fahre gern 220“).

Ob es so etwas noch einmal geben wird? Dass in 30 Jahren ein Kollege den dann gut 70-jährigen Constantin Schreiber fragt: „Wollen wir über Ihr Leben reden? Millionen Menschen sind mit Ihnen aufgewachsen, Ihre Stimme ist ihnen nach wie vor vertraut.“ Schreiber sagt dazu: „Ich denke, die Zeiten haben sich geändert – auch wenn die Tagesschau nach wie vor etwa elf Millionen Zuschauer erreicht.“ Diese Bindung, die die Zuschauer zu Dagmar Berghoff aufgebaut hätten, sei schon etwas Besonderes.

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