Die fünf Wirtschaftsweisen: Was raten sie Scholz?

von Redaktion

VON THOMAS SCHMIDTUTZ

Wiesbaden – Manchmal plagen selbst Wirtschaftsweise Zweifel: „Das liest doch noch jemand, wenn wir jetzt noch Sachen ändern, oder?“, fragt die neue Sachverständige Ulrike Malmendier, als immer neue Änderungsvorschläge durch den Raum fliegen. „Ja, wir“, entgegnet die Vorsitzende Monika Schnitzer, trocken. Vor der Druckfreigabe lese man sich den gesamten Text traditionell noch mal gegenseitig laut vor. Nur werde das halt „mindestens fünf Stunden dauern“, witzelt die Ökonomin über das mehrere Hundert Seiten lange Traktat. Lachen im zwölften Stock des Statistischen Bundesamts in Wiesbaden. Dort haben die Wirtschaftsweisen ihren Sitz.

Es ist Freitag, 14. Oktober. Noch gut dreieinhalb Wochen sind es bei unserem Besuch bis zur Übergabe des Jahresgutachtens an den Kanzler. Endspurt, täglich von neun bis 19 Uhr, oft auch bis tief in die Nacht. Diskutiert wird die dritte und letzte Fassung des Gutachtens, im Weisen-Sprech „3F“ genannt.

Auf dem Programm steht gerade ein Unterkapitel mit dem Arbeitstitel „Aktuelle Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft“. Es geht um Seltene Erden, die Rolle Chinas und um die Frage, wie es Japan gelungen ist, sich aus der Abhängigkeit von chinesischen Rohstofflieferungen für Schlüssel-Komponenten wie Halbleiter, Solarpanels oder Lithium-Ionen-Batterien für die Automobilindustrie zu befreien.

Debattiert wird Grundsätzliches wie die Schwierigkeiten beim internationalen Vergleich von Subventionen, aber auch ganz Irdisches wie die optimale Farbgebung für die Grafik zu kritischen Rohstoffen. Oder die Frage, ob man einen Satz mit „Beispielsweise“ oder „So“ einleiten sollte. Wir dürfen an diesem Vormittag per Videocall dabei sein, als einziges Medium in Deutschland.

Fünf Kapitel haben sich die Wirtschaftsweisen vorgenommen, plus die obligatorische Konjunkturprognose. Die Vorarbeiten laufen seit April. Doch wegen des Ukraine-Kriegs, der Energiekrise und der drastisch steigenden Preise sind viele Passagen überholt – und die Fragezeichen werden mehr. Erst vor wenigen Wochen warnten führende deutsche Wirtschaftsforschungsinstitute vor einer heraufziehenden Rezession. Um 0,4 Prozent könnte die deutsche Wirtschaft 2023 schrumpfen, sagen ifo, RWI & Co. Wenn der Winter eisig wird, das Gas knapp und Produktionen gedrosselt werden müssten, könnte es schlimmer kommen.

Aber wer weiß schon, wie das Wetter wird? Wie stark sparen private Haushalte Energie, drosseln ihren Konsum, sparen am Urlaub oder schieben geplante Anschaffungen auf die lange Bank? Wie gut können Unternehmen die stark gestiegenen Kosten stemmen? Und wie wirken sich die gigantischen Hilfsprogramme des Bundes aus? Das alles müssen die Räte jetzt abschätzen. Entsprechend knifflig ist der Auftrag.

Das Jahresgutachten wird also ergänzt, nachgeschliffen oder ganz umgebaut. Statt der geplanten fünf Kapitel werden es eher sechs sein, vielleicht mehr – plus Konjunkturabschnitt. Man habe bei der Konzeption im Frühjahr kein eigenes Krisenkapitel vorgesehen, sagt der Wirtschaftsweise Achim Truger. Nun müsse man die Folgen des Kriegs eben auf verschiedene Abschnitte aufteilen, teilweise auch komplett neu schreiben. Das sei schon ein „strammes Programm“.

Aber Truger kennt es nicht anders. Seit er im März 2019 in den Sachverständigenrat (SVR) aufrückte, sei das Gremium „im Ausnahmezustand“: Erst das Sondergutachten zur Klimapolitik im Sommer 2019, dann das viel beachtete Papier zu den Folgen der Corona-Pandemie im März 2020 – und nun die Ukraine-Krise. Wenigstens ist das Gremium wieder komplett. Anfang August berief das Bundeskabinett die Wirtschaftswissenschaftlerin Ulrike Malmendier und den Ökonomen Martin Werding. Malmendier gehört zu den meistzitierten deutschen Wirtschaftswissenschaftlern weltweit. Werding gilt als einer der führenden deutschen Experten für soziale Sicherungssysteme.

Den Personal-Entscheidungen war ein quälend langes Verfahren vorausgegangen. Vor allem die Suche nach einem Nachfolger für den langjährigen Ratsvorsitzenden Lars Feld erwies sich als kompliziert. Feld war Ende Februar 2021 ausgeschieden, nachdem sich die SPD um den damaligen Finanzminister und Kanzlerkandidaten Olaf Scholz gegen eine Vertragsverlängerung für den streitbaren Freiburger Ordoliberalen gestemmt hatte. Im vergangenen April legte der angesehene Frankfurter Geldpolitik-Experte Volker Wieland sein Amt vorzeitig nieder, vor allem aus privaten Gründen. Damit hatte das Gremium um die verbliebenen Weisen Monika Schnitzer, Veronika Grimm und Achim Truger gerade noch gesetzliche Mindeststärke – inmitten der wohl schwierigsten wirtschaftlichen Lage seit dem Zweiten Weltkrieg.

Der 1963 gegründete Rat ist eine Art All-Star-Team der Politikberatung in Wirtschaftsfragen. Unter deutschen Volkswirten gilt die Berufung als Ritterschlag. „Für viele ist das der Olymp der Ökonomen“, sagt Lino Wehrheim. Der Regensburger Wirtschaftshistoriker hat über die Arbeit des Sachverständigenrats promoviert und untersucht, welchen Einfluss die Wirtschaftsweisen auf die Politik und die öffentliche Debatte haben. Das Ergebnis ist sozusagen marktkonform. Der Einfluss sei „immer dann am größten, wenn Angebot und Nachfrage zueinander finden“, sagt Wehrheim. Im Klartext: Wenn die Räte die richtigen Themen setzen und ihre Ratschläge zu den Vorstellungen der politischen Mehrheit passen, können sie damit auch durchdringen.

Der Sachverständigenrat, resümiert auch der ehemalige Wirtschaftsweise Volker Wieland, brauche die „Fortune des Moments“. Dann könne er einer Position auch mit einer „konkreten Forderung über die Klippe helfen“.

Als der Rat etwa im Sommer 2019 auf Bitten von Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Sondergutachten zur Klimapolitik vorlegte, nutzten die Professoren die Gunst der Stunde und brachten eine umfassende Besteuerung auf Grundlage des CO2-Ausstoßes ins Spiel – mit Erfolg. Inzwischen gehören CO2-Abgaben zum Standardinventar der Klimapolitik in der EU und in vielen Ländern weltweit.

Doch so glatt lief es in der knapp 60-jährigen Geschichte des Rats nicht immer. Mit seinen Initiativen drang er in der Politik über viele Jahre nur schwer durch, sagt Wehrheim. Besonders Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre, lag das Verhältnis zwischen der Regierung und dem „ordnungspolitischen Gewissen der Nation“ (Wehrheim) nur knapp über dem Gefrierpunkt. In dieser Zeit habe „kaum noch jemand in der Politik den Sachverständigenrat ernst genommen“.

Ausgerechnet unter dem früheren SPD-Kanzler Gerhard Schröder habe das Gremium dann aber eine Renaissance erlebt sagt Wehrheim. Schröder habe für Projekte wie Hartz IV oder die Rürup-Rente Kommissionen eingesetzt und dazu den Rat der Wissenschaft gesucht. Zwar gab es unter Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) einen herben Rückschlag, weil der stinksauer auf die Experten und ihr legendäres Jahresgutachten von 2013 („Gegen eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik“) war. Doch danach fanden die Wissenschaftler und die Berliner Polit-Klientel zumindest einen Modus Vivendi.

Dann kam Corona – und die Weisen konnten sich vor Anfragen kaum noch retten. Das Interesse an „unabhängiger wirtschaftswissenschaftlicher Expertise“ sei mit dem Virus „regelrecht nach oben geschnellt“, sagt Achim Truger. „Politiker“, sekundiert Kollegin Veronika Grimm, fragten seit Beginn der Pandemie „immer häufiger um Rat“. Dies gelte nicht nur für Gespräche mit den Ministern, sondern auch für Beratungen mit Ministerialbeamten oder den Fachleuten aus den Bundestagsfraktionen.

Wie sehr sich die Wahrnehmung durch das Virus auch in der Öffentlichkeit verändert hat, offenbart ein Blick auf eine interne Destatis-Statistik. Danach tauchten die Auguren 2019 bundesweit rund 1200-mal in Presse, Hörfunk und Fernsehen auf. Auf dem Höhepunkt der Pandemie im Jahr 2020 brachten es der Rat und seine Weisen auf 1800 Beiträge und damit 50 Prozent mehr. Auch heuer ist der Rat der Vorzeige-Ökonomen höchst gefragt. Ukraine-Krieg, die Sorge um mögliche Blackouts, steil steigende Preise sind die Themen. Allein von Januar bis Juli waren die Weisen bereits 1200-mal in führenden deutschen Medien. „Die Räte“, raunte unlängst ein ehemaliges SVR-Mitglied ungläubig, „sind ja aktuell andauernd im TV.“

So, wie es aussieht, dürfte sich am aufgeflammten Interesse von Öffentlichkeit und Politik auch nach der Übergabe des Jahresgutachtens übermorgen an den Kanzler erst einmal wenig ändern.

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