München – Patricia Ziegler kann sich nicht erinnern, wann sie das erste Mal wegen ihrer Figur gemobbt wurde. Mitschüler rufen ihr zu, sie solle „weiterrollen“, sie wird als „fette Kuh“ beschimpft. „Irgendwie war es immer Thema“, sagt sie. Ihr Hausarzt rät ihr, mehr Sport zu treiben, weil sie sei ja schon – nun ja, übergewichtig. „Dabei habe ich zu diesem Zeitpunkt sechs Mal die Woche Sport gemacht.“ Über den Arzt ärgert sich die 27-Jährige immer noch. „Hätte er mich nicht in eine Schublade gesteckt, hätte ich vielleicht eher erfahren, was mit mir los ist.“
Die Münchnerin ist in der Pubertät, als ihr Körper schleichend explodiert. Arme und Beine werden immer dicker, Oberkörper und Taille hingegen bleiben schlank. Sie versucht es mit Diäten und noch mehr Sport, aber nichts hilft. Beim Hosenkauf ist nicht mehr die Bundweite entscheidend, sondern ob sie das Hosenbein über die Waden bekommt. Stiefel kommen überhaupt nicht mehr infrage. Binnen fünf Jahren nimmt sie zehn Kilo zu.
Die Account-Managerin zeigt ein Handyfoto. Darauf ist sie Anfang 20 und trägt ein weites, langes Kleid. „Ich habe mich immer mehr versteckt“, erzählt sie. Auch gesundheitliche Probleme machen sich bemerkbar. Beim Laufen pochen die Beine, sind stark druckempfindlich. „Auch wenn ich mich nur leicht angestoßen habe, hatte ich Schmerzen, als hätte mir jemand ein Messer ins Bein gerammt.“ Es gab Tage, sagt sie, da habe sie nur geweint. „Ich wusste nicht, warum mein Körper so ist, wie er ist.“ Immer wieder sucht sie bei Ärzten Rat, immer wieder bekommt sie zu hören, sie solle doch ihre Ernährung umstellen und sich mehr bewegen. „Übersetzt haben sie mir gesagt: Du bist selbst schuld an deinem Zustand. Und letztlich habe ich ihnen geglaubt.“
Dass sie krank ist, weiß Patricia Ziegler in all den Jahren nicht. Erst 2020 kommt sie dank eines Fernsehbeitrags über Lipödem-Betroffene ihrer Krankheit auf die Spur. „Von Lipödem hatte ich bis dahin nie gehört“, sagt sie. „Aber in den Schilderungen der Frauen habe ich mich zu hundert Prozent wiedererkannt.“ Ob sie vielleicht auch diese Krankheit habe, habe sie sich gefragt. Da ihr weder ihr Hausarzt noch ihre Gynäkologin weiterhelfen können („Welche Krankheit soll das sein?“), sucht sie nach einem Facharzt für Gefäßerkrankungen. Der diagnostiziert ein Lipödem im zweiten, mittelschweren Stadium.
Das Lipödem ist eine chronische Fettverteilungsstörung, die fast nur Frauen trifft. Dabei kommt es zu einer Vermehrung und Vergrößerung der Fettzellen vor allem an Beinen, Hüfte und Gesäß, manchmal auch an den Armen. Typisch ist, dass Körperteile in ein Missverhältnis geraten. Im Extremfall trägt eine betroffene Frau eine Bluse in Größe S und eine Hose in XXL. Dazu kommen Spannungsgefühle und Schmerzen, da sich Wasser zwischen den Fettzellen einlagert und diese Ödeme aufs umliegende Gewebe drücken.
Die Krankheit ist in drei Stadien unterteilt. Im dritten und schwersten bildet das verhärtete Fettgewebe ausgeprägte Fettwülste vor allem an Knien und Oberschenkeln, die das Gehen erschweren. Selten ist die Erkrankung keineswegs: In Deutschland leiden 2 bis 3,8 Millionen Menschen an einem Lipödem. „Genau lässt sich das nicht sagen – weil wir immer noch eine Dunkelziffer haben“, sagt Laszlo Kovacs, Facharzt für Chirurgie und Plastische Chirurgie und Leiter des Lipödem-Zentrums in München. Das Lipödem werde oft nicht erkannt, weil die Krankheit nicht über einen Test, sondern nur über ein Ausschlussverfahren diagnostiziert werden könne.
Claudia Götzinger, 54, Leiterin der Lipödem-Selbsthilfegruppe in Olching, kennt viele Geschichten von Frauen, die oft jahrzehntelang litten. „Das Lipödem steht nicht auf dem Lehrplan, von daher wissen viele Ärzte nichts über diese Krankheit“, sagt sie. „Dem Lipödem fehlt die Lobby.“ Auch Götzinger hat eine lange Leidensgeschichte hinter sich, bis sie endlich entsprechend behandelt wird.
Rund 80 Mitglieder hat die Gruppe, die sich ein Mal im Monat trifft, um Erfahrungen auszutauschen, sich Mut zu machen. Es gibt Fachvorträge, Wassersport und Entstauungsgymnastik. „Wir setzen uns füreinander ein“, sagt Götzinger. Das sei auch deshalb wichtig, weil der Alltag für Lipödem-Erkrankte zunehmend schwieriger werde. Als Beispiel nennt sie die Kompressionsstrumpfhose. Zwei Hosen im Jahr zahlt die Krankenkasse. Neuerdings aber müssten Betroffene bis zu 100 Euro pro Strumpfhose zuzahlen. „Das kann sich nicht jeder leisten.“ Ohne geht es aber auch nicht. Die Kompressionswäsche ist neben der manuellen Lymphdrainage der wichtigste Baustein einer konservativen Lipödem-Therapie. Beides soll die Beschwerden lindern und ein Fortschreiten der Krankheit verhindern. Geheilt werden kann das Lipödem nicht.
Patricia half ihre Kompressionsstrumpfhose zwar, den Zustand zu stabilisieren, besser wurde es aber nicht – weshalb sich die Münchnerin ein Jahr nach ihrer Diagnose zu einer Liposuktion entschloss. Dabei werden die krankhaften Zellen mittels Fettabsaugung entfernt. Fachleute empfehlen die Liposuktion dann, wenn konservative Maßnahmen nicht ausreichen, um das Lipödem in den Griff zu bekommen. „Nach heutigem Stand ist die Liposuktion die einzige Methode, die wir haben, um erkrankte Körperregionen dauerhaft zu entlasten“, sagt Kovacs.
Nicht jede Patientin kann sich operieren lassen. Manchmal sprechen medizinische Gründe dagegen (siehe Interview), manchmal fehlt es schlicht am Geld. In der Regel sind mehrere Eingriffe notwendig, die Kosten liegen zwischen 3000 und 8000 Euro – pro Operation. Seit 2020 und dem Beginn einer Erprobungsstudie, die die Effektivität der Liposuktion untersucht, können die Eingriffe über die Krankenkasse abgerechnet werden. Infrage hierfür kommen allerdings nur Patientinnen mit einem Lipödem im Stadium 3 und einem Body-Mass-Index (BMI) von unter 35 oder – unter der Auflage, dass zusätzlich die Adipositas behandelt wird – bis maximal 40. Diese Einschränkung ist unter Experten umstritten. Zu viele Erkrankte würden ausgeschlossen. „Auch ich war für die Krankenkasse nicht krank genug“, sagt Patricia Ziegler. Um die 18 000 Euro für ihre drei Eingriffe bezahlen zu können, hat sie einen Kredit aufgenommen. Die letzte OP ist jetzt fast ein Jahr her. „Es war kein Spaziergang“, sagt sie. „Diese Operationen sind heftig und es dauert lange, bis man sich wieder erholt.“
Ihre Erfahrungen hat sie auf ihrem Instagram-Account beschrieben. Sie erzählt von Zweifeln und psychischen Rückschlägen, von Schmerzen und Problemen, auf die Toilette zu gehen. Es ist ein ungeschönter Bericht, dem sie auch Fotos beigefügt hat. Eines zeigt ihr operiertes Bein: Es ist mit tiefroten Flecken übersät. „Ich bin bewusst an die Öffentlichkeit gegangen, um dafür zu sorgen, dass diese Krankheit bekannter wird“, sagt Patricia Ziegler. Das ist auch der Grund, warum sie dieser Geschichte zugestimmt hat.
Von den Operationen sagt sie heute, es sei die beste Entscheidung ihres Lebens gewesen. „Ich habe keine Schmerzen mehr, fühle mich endlich wohl in meinem Körper.“ Jetzt mache es Spaß, Sport zu treiben, sich mit Freunden zu treffen oder mit ihrem Mann spazieren zu gehen. Sie gehe mit einem neuen Selbstbewusstsein durchs Leben. „Früher habe ich in den Spiegel gesehen und mich geschämt. Heute bin ich stolz auf mich.“
Was bleibt, ist die Angst, dass das Lipödem zurückkehrt. Regelmäßig misst Patricia Ziegler den Umfang ihrer Oberarme und Oberschenkel und achtet penibel auf ihr Gewicht. „Nehme ich auch nur zwei Kilo zu, bekomme ich eine Panikattacke.“ Sie wisse, dass sie immer auf sich und ihre Ernährung achten muss. „Ich bin nicht geheilt“, betont sie. „Aber ich habe jetzt einen Weg gefunden, mit der Krankheit zu leben.“