Hannover – Kürzlich bin ich auf einen brutalen Schockanruf hereingefallen. Und dies, obwohl ich Kriminologe bin, über 30 Jahre hinweg das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen geleitet habe und als 78-Jähriger immer noch aktiv in Forschungsprojekten mitwirke. Aber all das hat mich nicht davor geschützt, einer Anruferin zu glauben, als sie mich mit einer fürchterlichen Horrornachricht überfiel.
Freitag, 5. August, 10.30 Uhr. Mein Handy klingelt – eine unbekannte Hannoveraner Nummer. Dran ist angeblich Franziska – unsere 34-jährige Tochter – weinend, schreiend, völlig verzweifelt. „Papa, ich habe gerade ein siebenjähriges Mädchen totgefahren.“ Dann wird ihr der Hörer von einer angeblichen Polizistin abgenommen – Frau Mertens. Sie informiert mich knapp über den Unfallhergang. „Eiliges Rechtsabbiegen. Ihre Tochter hat das Mädchen schlicht übersehen und es mit ihrem roten Auto voll erfasst. Danach versuchte Unfallflucht, dann Rückkehr. Eine Psychiaterin betreut sie jetzt wegen Suizidgefahr.“ Ich bin tief entsetzt.
So beginnt ein gut 20-minütiges Gespräch mit dieser Polizistin. Sie informiert mich, dass Franziska bald dem Haftrichter vorgeführt werde. Da drohe wegen fahrlässiger Tötung und Unfallflucht die Untersuchungshaft. Für Franziska wäre das extrem belastend. Deswegen komme es nun auf mich an. „Wenn es Ihnen gelingt, bis Mittag eine Kaution in Höhe von 55 000 Euro aufzubringen, können Sie Ihre Tochter sofort nach Hause mitnehmen.“ Das überzeugt mich. Ab jetzt gibt es nur dieses Ziel. Und Frau Mertens ermutigt mich: „Sie schaffen das.“
Und so rufe ich über unsere Festnetznummer meinen alten Vertrauten aus der Sparkasse an. Frau Mertens hört auf meinem Handy mit, als er ankündigt, die Barauszahlung bis spätestens 13 Uhr zu organisieren. Er schließt mit dem Hinweis: „Auf einen Enkeltrick würden Sie ja nicht hereinfallen.“ Ich bestätige das. Frau Mertens beglückwünscht mich. Aber auf einmal ist unser Gespräch unterbrochen. Ich wähle schnell die vorher notierte Nummer aus Hannover und höre: „Kein Anschluss unter dieser Nummer.“ Jetzt bin ich erstmals irritiert. Ich rufe 110 an, erzähle meine Geschichte. So erfahre ich, dass ich hier einem Schockanruf aufgesessen bin und dass man sofort einen Streifenwagen zu mir schickt.
Aber dann ist Frau Mertens wieder am Handy. Sie verfolgt weiter ihr Ziel – die Zahlung der Kaution. Doch jetzt hat sich das Spiel gedreht. Jetzt möchte ich dazu beitragen, dass sie und ihre kriminellen Helfer hinter Gittern landen. Als der Streifenwagen eintrifft, melde ich mich bei Frau Mertens kurz ab, weil ich auf die Toilette müsste. Die beiden Polizisten stimmen mich auf mindestens zwei bis drei Stunden ein, bis die Geldübergabe gegenüber einem Mitglied der Bande klappen könnte. Mit Frau Mertens bespreche ich über das ständig eingeschaltete Handy, dass ich nun im Auto zur Sparkasse unterwegs bin. Dort zeige ich der Frau an der Kasse einen Zettel: „Betrug! 55 000 Euro Kaution.“ Sie bittet mich in einen Nebenraum, während mein Handy an der Kasse bleibt, und überreicht mir einen dicken, mit Papier gefüllten Umschlag. Auf ihrem Handy vereinbare ich mit 110, dass mich von nun an zwei zivile Beamte zu meinem Schutz begleiten.
Die sind schnell da und folgen mir unauffällig in einem alten Golf. Frau Mertens überrascht mich mit der Botschaft, die Kasse des Amtsgerichts Hannover habe um 13 Uhr geschlossen. Sie nennt das Amtsgericht Hildesheim als neues Ziel. Wieder brauche ich eine Ausrede für die Kontaktaufnahme zur Polizei. Dieses Mal ist es der kurze Stopp bei einer Bäckerei. Das Handy bleibt im Auto. Ich rede mit den beiden Zivilbeamten. Für eine solche Fahrt über Landstraße und Autobahn bräuchten sie zu meiner Sicherheit mindestens ein weiteres Polizeiteam. Aber das steht so schnell nicht zur Verfügung. Sie müssen unser Projekt abbrechen. Wieder im Auto sehe ich, dass auch Frau Mertens aufgegeben hat.
Es ist mir wichtig, die Botschaft nach draußen zu tragen, dass jeder auf so einen Schockanruf reinfallen kann. Deswegen habe ich meine Geschichte öffentlich gemacht und erzähle davon.
Um gegen solche Betrugsmaschen noch gezielter vorgehen zu können, würde ich mir folgende Maßnahmen wünschen: Eine groß angelegte repräsentative Befragung von Senioren. Zur Aufklärung – und um zu erfahren, wie hoch die Dunkelziffer solcher Betrugsversuche ist. Die Polizei sollte gleich nach Bekanntwerden eines Schockanrufes bei der Staatsanwaltschaft eine Telefonüberwachung beantragen, damit sie gestützt auf das laufende Gespräch zwischen Opfer und Täter die Geldübergabe verhindern und das Bandenmitglied festnehmen kann. Bei mir gab es diese Festnahme auch deshalb nicht, weil die Polizei mein Gespräch mit Frau Mertens nicht mitverfolgen konnte.
Zudem wird die Einstufung solcher Taten als Betrug der Realität nicht gerecht, wie ich finde. Derartige Schockanrufe stellen eine schwere Form psychischer Gewalt dar. Dem sollte im Tatbestand des Betruges durch einen neuen, die Strafe deutlich verschärfenden Absatz Rechnung getragen werden. CHRISTIAN PFEIFFER