Kochel am See – Zupacken, wenn Kletterer in Not sind. Für Richard „Ritchi“ Huber ist das eine Selbstverständlichkeit. Seit 22 Jahren engagiert sich der 55-Jährige ehrenamtlich bei der Bergwacht in Kochel im Kreis Bad Tölz-Wolfratshausen. Er ist stellvertretender Bereitschaftsleiter und seit 2012 auch für die Leitung der Einsätze in den Bergen rund um den Kochel- und den Walchensee zuständig. Huber und seine Kollegen setzen alles daran, um Verunglückte wieder heil ins Tal zu bekommen.
Mancher Einsatz ist Huber besonders in Erinnerung geblieben. Etwa jener vor zwei Jahren, als ein Eiskletterer an der Jochbergnordwand von Steinschlag erwischt wurde. Der erfahrene Sportler aus München verlor im Seil das Bewusstsein. Sein Begleiter konnte einen Notruf absetzen. „Der Einsatz war zeitkritisch“, erzählt Huber. Per Hubschrauber wurde der Schwerverletzte zügig geborgen. „Eine halbe Stunde später hätte das Ganze anders ausgehen können.“ Huber kümmerte sich damals um die Erstversorgung im Tal.
Im Alltag ist Richard Huber Bauingenieur und stellvertretender Betriebsleiter der Versuchsanstalt für Wasserbau und Wasserwirtschaft der TU München am Walchensee. Zur Bergwacht kam er eher zufällig. „Ich war schon immer gerne in den Bergen unterwegs“, sagt er. Als es den gebürtigen Niederbayern beruflich an den Alpenrand verschlug, brachte ihn ein Nachbar zur Bergwacht. An unzähligen Einsätzen auch in Teilen der Loisach-Kochel-Moore, die zum 50 Quadratkilometer großen Einsatzgebiet der Bergwacht gehören, war er seitdem beteiligt. „Pro Jahr haben wir ungefähr 80 Einsätze“, sagt Huber. Bei etwa jedem dritten ist er dabei. Sein Ehrenamt nimmt viel Zeit in Anspruch. „Aber darüber denke ich nicht großartig nach. Ich habe noch nie irgendwelche Stunden zusammengerechnet.“
Huber ist einer von Millionen Ehrenamtlichen in Deutschland. Die Zahlen unterscheiden sich stark – je nachdem, wie Ehrenamt definiert wird. Laut dem Freiwilligensurvey (FWS), einer telefonischen Befragung auf Bundesebene durch das Deutsche Zentrum für Altersfragen, gab es 2019 über 28 Millionen Ehrenamtliche. Hierzu zählten alle, die in Vereinen, Initiativen, einer selbst organisierten Gruppe aktiv waren oder sich alleine engagierten. Für Bayern ergab der FWS eine Quote von 41 Prozent – das sind 4,7 Millionen Ehrenamtliche. Die meisten waren im Bereich „Sport und Bewegung“ tätig. Einer weiteren Studie des Deutschen Zentrums für Altersfragen zufolge hat sich der Anteil der Ehrenamtlichen zu Beginn der Corona-Pandemie nicht maßgeblich verändert.
Zu einem anderen Ergebnis kommt das Institut für Demoskopie Allensbach (IfD), das im Sommer eine Studie zum Ehrenamt vorlegte. Die Teilnehmer wurden explizit gefragt, ob sie sich unentgeltlich freiwillig engagieren. Die IfD-Studie kommt auf 15,7 Millionen Deutsche, die das in ihrer Freizeit tun. Die Anzahl habe durch die Pandemie abgenommen. 2020 seien es noch 8,2 Prozent mehr, also 17,1 Millionen, gewesen. Ein Rückgang an Ehrenamtlichen macht sich schnell bemerkbar: Vereine und Organisationen stehen vor einem Nachwuchsproblem, es fehlt an Sporttrainern, Feuerwehrlern oder Tafel-Mitarbeitern.
Die Bergwacht Kochel hat noch keine Nachwuchssorgen, wie Huber berichtet. „Wir haben zum Glück richtig gute junge Anwärter und Anwärterinnen, die zügig Aufgaben übernehmen.“ Die Ausbildung zum Bergretter dauert mindestens zwei Jahre, körperliche Fitness ist Voraussetzung, weswegen es Eignungstests gibt. Die Anwärter werden auch intensiv medizinisch geschult. Nach psychisch belastenden Einsätzen können Bergwachtler selbst Hilfe beanspruchen.
Denn nicht alle Einsätze gehen gut aus. Wie im vergangenen Februar. Eine 23-Jährige war am Herzogstand abgängig, konnte nur noch tot geborgen werden. Huber war damals für die Koordinierung des Einsatzes mit zuständig. „Wir mussten die Suche über Nacht aussetzen“, erzählt er. „Das war keine leichte Entscheidung.“ Die Witterung habe eine nächtliche Suche unmöglich gemacht. „Die Sicherheit der Einsatzkräfte hat einfach höchste Priorität.“
Trotz solch tragischer Momente denkt Huber nicht ans Aufhören. Sein Ehrenamt erfüllt ihn. „Es ist nicht der unsinnigste Job“, formuliert er es bescheiden. Durch die Bergwacht seien auch echte Freundschaften entstanden. „Man gibt nicht nur, sondern man nimmt auch.“ Und obwohl er und seine Kollegen immer wieder Menschen aus teils lebensgefährlichen Lagen retten, will Huber nicht zum Helden stilisiert werden. „Ich habe mich für die Bergwacht entschieden, und deshalb mache ich das auch.“
Bayerns Ehrenamtsbeauftragte Eva Gottstein sagt: „Wir als Gesellschaft können uns glücklich schätzen, auf so viele freiwillig Engagierte bauen zu können.“ Bayern sei „ein Mitmachland“, Ehrenamt halte „den Laden am Laufen“. Ansonsten würde es in vielen Bereichen schwierig – etwa im Katastrophenschutz, im Sport oder im sozialen Bereich.
Für Richard Huber ist es wichtig, dass seine Frau, seine zwei Söhne und auch sein Arbeitgeber hinter seinem Engagement stehen. Den Ältesten hat Huber bereits angesteckt: Der 23-Jährige ist selbst als Bergretter aktiv. Trotz seines zeitintensiven Engagements, kann sich Huber seinem Hobby widmen – dem Bergsport. „Es ist mir wichtig, dass mir neben dem Ehrenamt noch genügend Zeit zum Bergsteigen bleibt.“
JENNIFER BATTAGLIA