München – Wer ein Potemkinsches Dorf errichtet, schafft ein Truggebilde, eine bloße Fassade. Der Begriff geht auf eine Erzählung über den russischen Fürsten Potjomkin zurück. Der ließ demnach 1787 in gerade eroberten Gebieten entlang des Reiseweges von Zarin Katharina aus bemalten Kulissen illusionäre Dörfer entstehen, um seiner Herrscherin blühende Landschaften vorzugaukeln.
Potemkinsche Dörfer soll auch der Aschheimer Finanzdienstleister Wirecard errichtet und damit Aktionäre, Banken und Aufsichtsorgane wie die BaFin erfolgreich getäuscht haben. Vorstandschef Markus Braun galt vielen (auch solchen, die es später schon immer gewusst haben wollen) als Digital-Guru, Wirecard als deutsche Antwort auf hierzulande beneidete US-Internetkonzerne.
In Wahrheit wurde bei Wirecard wohl so einiges frei erfunden. So sollen 1,9 Milliarden Euro Kapital nur auf dem Papier existiert haben. Was genau sich bei Wirecard abspielte, soll der morgen beginnende Prozess klären. Der Hauptangeklagte Markus Braun, seit 28 Monaten in Untersuchungshaft, sieht sich selbst als Opfer und nicht als Täter, bestreitet die Vorwürfe und schweigt. Mit auf der Anklagebank sitzen der Chefbuchhalter und ein als Kronzeuge gegen Braun agierender Manager. Ob der Prozess die ganze Wahrheit ans Licht bringt, ist keineswegs sicher.
Schon die Anfänge des Zahlungsdienstleisters aus Aschheim bei München im Jahr 1999 sind anrüchig. Es beginnt, wie es später endet: mit dem gebürtigen Wiener Markus Braun und seinem Landsmann Jan Marsalek, dem bis heute flüchtigen zweiten Hauptverdächtigen.
Jan Marsalek (siehe auch Kasten) gilt als genialer Programmierer und rechte Hand Brauns. Der 53-jährige Wiener belebt Wirecard nach einer ersten Pleite im Jahr 2001 wieder. Das gelingt mit Zahlungsdiensten für die Pornoindustrie, eine Branche, mit der damals wenige zu tun haben wollen. Für US-Glücksspielanbieter sind die Aschheimer ebenfalls tätig – auch verdeckt, als US-Behörden das für illegal erklären.
In Deutschland meldet die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) 2008 erste Zweifel an der Seriosität von Wirecard an. In der Sache ist die Kritik aus heutiger Sicht berechtigt. SdK-Funktionäre spekulieren aber parallel zu ihren Enthüllungen mit Wirecard-Aktien und machen sich damit angreifbar. Wirecard reagiert wie später immer wieder: Das Management geht zum Angriff über – und kommt damit durch. Auch später glauben Staatsanwälte oder die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) lange Brauns und Marsaleks Unschuldsbeteuerungen. Ermittelt wird stattdessen gegen Journalisten und andere Wirecard-Kritiker.
Dabei liegt die Wahrheit manchmal zum Greifen nah. Zum Beispiel sollen rund eine Milliarde Euro bei Banken in Singapur auf Treuhandkonten zur Verfügung von Wirecard liegen. Als diese Konten später auf die Philippinen transferiert werden, wachsen sie auf dem Papier auf 1,9 Milliarden Euro an. Kontoauszüge, die das bestätigen sollen, lauten auf Euro. Die Treuhandbanken weisen aber in ihren Bilanzen keine Einlagen solcher Dimension in Fremdwährung auf – was bei seriösen Wirtschaftsprüfern zumindest zu kritischen Nachfragen hätte führen müssen. Die Geschichte von Wirecard ist also auch ein eklatantes Aufsichtsversagen auf allen Ebenen. Angeklagt ist das Erfinden von viel Geld und dahinterstehender Geschäfte als gewerbsmäßiger Bandenbetrug, unrichtige Darstellung und als Marktmanipulation.
Ein weiterer roter Faden im Wirecard-Skandal ist das Verschwinden hoher Summen, die wirklich existiert haben. Ein sich wiederholendes Prinzip ist das Vergeben oft ungedeckter Kredite durch Wirecard und dessen Bankentochter an Partnerfirmen, die es heute oft nicht mehr gibt oder die nur eine Briefkastenexistenz geführt haben. Mehrere hundert Millionen Euro werden so aus Wirecard herausgeschleust, haben Staatsanwälte ermittelt. In der 474-seitigen Anklageschrift steht daher auch der Tatvorwurf der Untreue.
Obwohl Analysten und Journalisten öfter Zweifel an der Richtigkeit der Geschäfte und Bilanzen anmelden, steigt der Konzern im September 2018 in den Dax auf und verdrängt die altehrwürdige Commerzbank – was als Zeichen einer Zeitenwende gefeiert wird. Modernes Fintech löst überkommenen Dinosaurier ab, lautet der Tenor. Fast 200 Euro kostet eine Wirecard-Aktie damals. Der ganze Konzern wird mit rund 20 Milliarden Euro bewertet.
Dann läuten die Alarmglocken aber so schrill, dass Ignorieren keine Option mehr ist. Die angesehene britische „Financial Times“ (FT) und deren Reporter Dan McCrum liefern 2019 in einer Serie von Berichten überzeugende Belege dafür, dass Geschäfte und Gewinne im großen Stil erfunden waren. Klar ist: Einer lügt, dass sich die Balken biegen – aber wer? Die Zeitung oder Wirecard?
Staatsanwälte und BaFin ergreifen auf fatale Weise Partei. Ermittelt wird nicht gegen Wirecard, sondern gegen die „FT“ und McCrum. Die BaFin untersagt sogar Spekulationsgeschäfte auf fallende Aktienkurse – für eine einzelne Aktie ein Novum in der deutschen Finanzgeschichte. Den Drahtziehern bei Wirecard verschafft das eine neue Atempause. Wenn sich die BaFin klar auf die Seite des Unternehmens stellt und gegen die Kritiker ermittelt wird, dann sitzen die Lügner wohl nicht in Aschheim, wird zur verbreiteten Annahme.
Im April 2020 stürzt das „House of Wirecard“, wie McCrum sein Buch über den vielleicht größten Betrugsfall der deutschen Wirtschaftsgeschichte titelt, endgültig ein. Wirtschaftsprüfer von KPMG können für die angeblichen Treuhandgelder in doppelter Milliardenhöhe keine Belege finden. Kollegen von EY hatten die Bilanzen davor jahrelang unbeanstandet durchgewunken. Erst jetzt verweigern auch sie ihr Testat für die Bilanz 2019 – für Wirecard das Todesurteil. Am 25. Juni 2020 muss Wirecard Insolvenz anmelden. Marsalek ist da schon auf der Flucht. Braun tritt als Chef zurück, kommt später in Untersuchungshaft. Die 1,9 Milliarden Euro firmeneigenes Treuhandvermögen sind nie aufgetaucht und haben wohl auch nie existiert.
Genau das bestreiten Brauns Verteidiger. Es sind die Kernfragen im Prozess: Hat es das milliardenschwere Treuhandvermögen nie gegeben – und war Braun Teil einer Bande? Das ist nach jahrelangem Ermitteln, 450 Vernehmungen und 90 Rechtshilfeersuchen im Ausland, 40 Durchsuchungen im Inland und 42 Terabyte an gesicherten Daten die Version der Anklage. Die Ermittlungsakten umfassen über 700 Ordner.
Gestützt wird die Anklage vom mitangeklagten Kronzeugen, dem Ex-Statthalter von Wirecard im arabischen Dubai. Dort vor allem sollen viele Geschäfte frei erfunden worden sein. Braun wäre demnach ein Jahrhundertbetrüger. Oder hat es diese Gelder doch gegeben und sie wurden von einer Bande – ohne Braun – illegal beiseitegeschafft?
Das ist Brauns Version, die Marsalek zum kriminellen Kopf macht. Von der Existenz solcher Schattenstrukturen im Konzern will Braun erst durch Ermittlungsakten erfahren haben. Ihm drohen zehn Jahre Haft. Bis mindestens Ende 2023 hat sich das Gericht gegeben, die Wahrheit herauszufinden, und dafür 100 Verhandlungstage angesetzt. Es könnte gut sein, dass das nicht ausreicht.
Die Anfänge und
das Prinzip Wirecard
Bejubelter Aufstieg in den Dax
Das Kartenhaus stürzt ein
Die Kernfragen
des Prozesses