Der Untergang eines Baudenkmals

von Redaktion

Der historische Starnberger Flügelbahnhof in München soll einem Hochhaus weichen – doch es gibt Widerstand

VON DIRK WALTER

München – Zugegeben, besonders schön ist der Starnberger Flügelbahnhof nicht, sagt Harald Lukas. Der ehemalige Grafikdesigner steht in der früheren Schalterhalle des Bahnhofs. Eine riesige Halle, aber nichts los. Die sechs Schalter für den Fahrkartenverkauf sind seit Jahren geschlossen. In der Ecke eine Rattenfalle. Schräg gegenüber schläft ein Obdachloser. Und die Caritas hat einen Versorgungsstand für Flüchtlinge aufgebaut – „Die Heißgetränke sind nur für die ukrainischen Geflüchteten“, heißt es auf einem Plakat. Es ist kein Flüchtling da.

Lukas gehört der Initiative Münchner Architektur und Kultur (AKU) an, eine kleine Gruppe, die gegen „städtebauliche Verschandelung“ zu Felde zieht. Ihr Vorsitzender Karl Hofmann, 87, kommt aus Oberhaching und ist prinzipiell argwöhnisch, wenn es um Großprojekte geht. Der Jurist kämpfte an der Seite des ehemaligen OB Georg Kronawitter gegen über 100 Meter hohe Hochhäuser, gegen den Autobahn-Südring, gegen den Abriss des Gasteigs – und jetzt gegen die Beseitigung des Flügelbahnhofs.

Er will nichts unversucht lassen. Gegen den Abriss hat er vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof geklagt. In der „Verwaltungsstreitsache“ Hofmann gegen die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Eisenbahnbundesamt, zog Hofmann aber den Kürzeren. Er verlor, weil der Verein nicht klageberechtigt sei. Der 87-Jährige findet, er sei „mit formalen Argumenten runtergeputzt“ worden.

Das Problem der Initiative AKU: Der Abriss ist eigentlich schon genehmigt. Doch jetzt kämpft die Bahn mit bautechnischen Widrigkeiten – und der Termin verschiebt sich immer weiter. Statt im nächsten Jahr könnte der Flügelbahnhof frühestens 2025 abgerissen werden, erfuhr unsere Zeitung.

Eine Gnadenfrist für den maroden Bahnhof? Eine neue Chance für Hofmann und seinen Mitstreiter Lukas?

Der Starnberger Flügelbahnhof ist eine Legende. Früher fuhren hier von den Gleisen 27 bis 36 die Züge nach Starnberg ab, heute sind es die Regionalzüge zum Tegernsee, nach Bad Tölz und nach Garmisch-Partenkirchen. Täglich kommen hier über 50 000 Fahrgäste an oder fahren ab. Der Bahnhof entstand zwischen 1913 und 1921, wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und 1949/50 unter Leitung des heute weithin unbekannten Architekten Heinrich Gerbl neu gebaut. Für Harald Lukas ist der Bahnhof „ein echtes Stück Zeitgeschichte“.

„Rückbau“ nennt die Bahn den geplanten Abriss. Dafür soll ein Hochhaus aus Beton und Glas gebaut werden – fast 70 Meter und 17 Stockwerke hoch. Am Rand des Bahnhof, wo die DB Station & Service sitzt („Ihr kompetenter Facility Management Partner“), wird mit Plakaten über die Planungen informiert. Der Münchner Hauptbahnhof soll „eine attraktive Visitenkarte für eine weltoffene Stadt“ werden. Daher erhält er ein neues Empfangsgebäude. Die Gleishalle mit ihren markanten Stahlsäulen bleibt, wird aber modernisiert. Der Flügelbahnhof kommt ganz weg.

Für Harald Lukas ist das eine Fehlplanung. „Statt zu sanieren, wird weggerissen“, sagt er. Ein Argument hat die Initiative: Der Flügelbahnhof steht unter Denkmalschutz. „Zweigeschossiges Empfangsgebäude mit kolossaler Pfeilerhalle und Freitreppe, Schalterhalle und Querbahnsteig mit Oberlichtern, im Stil des Neuklassizismus“, so hat das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege den Bahnhof bewertet. Es ist ein Denkmal, mit dem mancher fremdelt – denn der Bahnhof ist mit den Säulen und der schlichten, rechteckigen Form auch ein Beispiel für „die Kontinuität von Elementen aus der Repräsentationsarchitektur des Nationalsozialismus“. So steht es im Planfeststellungsbeschluss, den das Eisenbahn-Bundesamt im April erlassen hat.

In diesem über 100 Seiten langen Bescheid findet sich manche Stilblüte (Der beantragte Rückbau „führt im Ergebnis zum Untergang des Baudenkmals“), die Quintessenz aber ist eindeutig: Der Denkmalschutz ist für den Abriss kein Hinderungsgrund. Denn so ganz schützenswert sei der Bahnhof nicht, heißt es im Bescheid. Zum Beispiel, weil an dem Denkmal schon vor langer Zeit herumgedoktert wurde. Statt der einstmals zehn Pfeiler an der Eingangsfassade gibt es heute nur noch sieben – drei wurden irgendwann abgerissen. Durch eine „professionell angefertigte, aussagekräftige und archivierungsfähige Fotodokumentation“, so das EBA, sei dem Denkmalschutz daher Genüge getan.

Das Hochhaus der Bahn war früher heiß umstritten. 2015 legten die Stuttgarter Architekten Auer + Weber den Entwurf für ein 85-Meter-Hochhaus vor – „ein durchaus reizvoller Hochpunkt“, der „mit heroischer Geste dem Hauptgebäude fast ein wenig die Show stiehlt“, hieß es im PR-Sprech der Architekten. Doch die Stadtgestaltungskommission stutzte den Entwurf 2017 auf knapp 70 Meter. Die oberen Stockwerke müssen, so die Auflage, öffentlich zugänglich werden. Also keine Büros, was die Rendite schmälern dürfte. Vielleicht kommt ein Restaurant rein.

Auf Mitstreiter kann sich Hofmann kaum verlassen – in allen Stadtratsfraktionen fand der korrigierte Entwurf des Büros Auer + Weber Zustimmung. Selbst der Grünen-Abgeordnete Markus Büchler, ein Bahnspezialist, der den Konzern gerne und oft kritisiert und sogar seine Zerschlagung forderte, hält den Neubau für sinnvoll. Verkehrsgünstige Bürobauten, die man mit der Bahn erreicht – besser gehe es doch gar nicht. Vom Bund Naturschutz hört man es ähnlich. Lediglich vom Landtagsabgeordneten der Grünen, Martin Runge, kommen kritische Töne. Er kritisiert aber vor allem die Vorgehensweise. Es sei schon „ein starkes Stück“, dass sich die Deutsche Bahn (wie aber immer bei Bahnbauten) über das Bundesamt die Planung selbst genehmige . Und dabei handele es sich ja noch nicht einmal um eine Gleisanlage, sondern um ein stinknormales Hochhaus.

Doch so einfach ist es mit dem Abriss auch wieder nicht. Zwar ist die Planfeststellung schon erteilt, der Abriss im Grundsatz also genehmigt. Doch jetzt sind plötzlich Änderungen notwendig, die weitere Genehmigungsprozeduren nach sich ziehen. „Kleinere bautechnische Anpassungen sowie die Verschiebung eines Mischwasserkanals um ca. zwei Meter“ werden vom Eisenbahnbundesamt genannt. „Es sind die Wege der Bahnkunden zu sichern, neue Treppenanlagen, Überdachungen, Lautsprecher und Beleuchtung herzustellen“, erläutert eine Bahnsprecherin. Außerdem müssen Kanäle und Kabel verlegt werden, bevor der Bagger kommt.

Zudem hat DB Netz beantragt, dass die Fläche der Schalterhalle im Flügelbahnhof offiziell entwidmet wird – „Freistellung von Bahnbetriebszwecken“ heißt das im Amtsdeutsch. Parallel dazu sollen die fünf Mittelbahnsteige barrierefrei neu gebaut und auch die 107 Meter langen Bahnsteigdächer komplett neu errichtet werden. Der Starnberger Flügelbahnhof, so viel steht fest, wird zur Großbaustelle. So oder so. Aber: Es dauert und dauert. „Der Abrisstermin für das Gebäude hängt von der weiteren Genehmigungslage ab und ist für 2025 geplant“, heißt es jetzt. Ursprünglich war 2023 angedacht. Die Fertigstellung des Neubaus 2027 ist damit nicht zu halten. 2029 ist realistischer. Wenn überhaupt.

Zu Hilfe kommen könnte der Initiative noch etwas: Die Deutsche Bahn ist mehr oder minder pleite. Nach einem Bericht des Bundesrechnungshofes von Mitte November ist der Schuldenstand der DB AG auf 29,1 Milliarden gestiegen, rechnet man Anleihen und pandemiebedingte Nothilfen des Bundes dazu, sind es rund 35 Milliarden Euro. Die Kosten für den Neubau des Hauptbahnhofs sind unabsehbar – sicher weit über eine Milliarde Euro. Allein der Neubau des Starnberger Flügelbahnhofs mit dem Hochhaus wird auf einen niedrigen dreistelligen Millionenbetrag geschätzt. Die Bahn muss das alleine stemmen, anders als bei Schienenprojekten gibt es keine Mittel von Bund oder Land.

Auch Karl Hofmann hat von der Finanzmisere gelesen. Prompt hat er sich an den Bundesrechnungshof gewandt. Der möge doch bitte intervenieren. Ob das geschieht? Fraglich. Aber Hofmann wäre nicht Hofmann, wenn er nicht nachbohrt.

Sein Mitstreiter Harald Lukas ist trotz allem nicht sehr optimistisch. Nach seinen Vorstellungen müsste auch der Hauptbahnhof sehr viel behutsamer saniert werden als es jetzt geplant ist. Für das Denkmalnetz Bayern hat er vor Jahren einen Alternativ-Entwurf zu Papier gebracht, in dem sowohl Reste des ehemaligen Hauptbahnhofs wie auch die Fassade des Flügelbahnhofs mit dem Glitzerneubau kombiniert sind. Problem: Manche Gebäudeteile der alten Hauptbahnhof-Fassade, die in dem Entwurf noch zu finden sind, hat die Bahn längst beseitigt.

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