Doha – Es ist einer der seltenen Abende ohne ein Spiel. Dennoch ist Doha voller Fußball. In der Fußgängerzone, durch die gelegentlich eine kleine Straßenbahn tuckert, hat der südamerikanische Verband CONMEBOL einen Fußballkäfig aufgebaut, in dem vier Jungen spielen. Einer trägt den Thawb, das knöchellange weiße arabische Gewand. Er kickt barfuß, lacht – das neue Spiel hat ihn gefangen genommen. Am Eingang zum Souk dröhnt aus einer mobilen Box landestypische Tanzmusik. Drumherum steht den Trikots nach das halbe Teilnehmerfeld der WM und klatscht den Takt. Massen von Menschen schieben sich durch die engen Gassen des Marktes, doch keiner drängelt, raunzt, hechtet sich auf den letzten freien Platz in einem der Restaurants.
Die Welt ist eins in diesen Augenblicken – und ist es nicht genau das, worum es beim größten Sportereignis geht? Völkerverständigung, Friede? Deutschland war 2006 so stolz darauf. Muss es nun nicht anerkennen: Katar hat das gut gemacht?
Katar hat es zumindest clever gemacht. Wahrnehmung läuft über Bilder. Katar bot Motive, die sich festsetzten. Die Skyline, tagsüber erhaben, verspiegelt, geheimnisvoll, nachts Lichtspiele an den Fassaden der Hochhäuser. Die Stadt glitzerte wie Las Vegas, nur ohne teuflische Versuchungen. Zwischen den vier markanten Türmen des Lusail Boulevard, ein paar Kilometer weiter draußen beim Endspielstadion, stand der Mond am schwarzen Himmel, im perfekten Fotowinkel, als hätte ihn jemand dort hingehängt. Es war ein ständiges Handyzücken. Fans fotografierten sich vor meterhohen „I Love Qatar“-Schriftzügen am Strand und instagramten, whatsappten und tiktokten es hinaus in die Welt: Toll hier!
Der Eindruck konnte entstehen, weil das Turnier an einem Ort stattfand. In Südafrika 2010, Brasilien 2014 und Russland 2018 bespielte die WM einen Radius von tausenden Kilometern, in Katar lagen die Stadien maximal 70 Kilometer auseinander. Der mittlerweile für die FIFA tätige frühere Startrainer Arsène Wenger jubilierte, „dass Prognosen, die Fans würden nicht nach Katar kommen, sich nicht bestätigt haben“.
Die Stadien waren gut gefüllt, das ist richtig, doch dafür genügte eine weitaus geringere Anzahl an WM-Touristen als sonst, denn: Sie konnten zwei Spiele pro Tag besuchen. Vor allem die Europäer hielten sich fern. Beispiel Niederlande: Statt des zu einer WM üblichen „Oranje Camping“ mit Zehntausenden traten holländische Fans nur vereinzelt auf, die Höchstzahl waren 1400.
Wer kam: Südamerikaner, Araber aus Katars Nachbarstaaten, Marokkaner. Es war die WM der anderen. Für sie war es die Fußball-Weltmeisterschaft, das große Ding, das es nur alle vier Jahre gibt und wofür zuhause die Fernseher eingeschaltet wurden. Für die Deutschen war es die WM in Katar. Man wurde nicht warm mit ihr.
Katar wiederum wollte sich nicht belehren lassen. Es war schon eine Überwindung für den Gastgeber, sich zu Menschenrechten äußern zu müssen. Katar richtete ein eigenes Medienzentrum ein, das Anlaufstelle sein sollte für Fragen zum Land. Zwei Organisationen, die für die Arbeitsmigranten eintreten, durften sich dort präsentieren: die International Labour Organisation (ILO) und Workers’ Welfare. Die Mitarbeiterin, eine Australierin mit indischen Wurzeln, erklärt, dass man während der WM für alle zuständig sei, die irgendeinen Job hätten – das sind 190 000 Menschen. Es hatte in den letzten Monaten ein Gerangel um die Zahlen gegeben und einen Deutungskampf darüber, was sie besagen. Für die WM gestorben waren zwischen drei (so FIFA-Präsident Gianni Infantino) und über 15 000 Menschen (Amnesty International).
Von den 900 000 Arbeitern, deren prekäre Lebensverhältnisse in zahlreichen Reportagen thematisiert wurden, war nur ein Bruchteil auf direkten WM-Baustellen beschäftigt – laut Workers’ Welfare im Spitzenmonat Oktober 2019 genau 32 158. Eine Gruppe, die besser geschützt wurde. Diese Bauarbeiter wurden etwa mit speziellen Anzügen ausgestattet, entwickelt in Katar, die die Temperatur auf der Haut um acht Grad senken. Aber im Sommer, wenn es 50 Grad hat, sind es dann immer noch 42.
Und auf die meisten Arbeitsbrigaden fällt eben nicht das Licht der Weltöffentlichkeit. Dort wurden keine Anzüge verteilt. Man nähert sich der zweiten Realität der Boom-Stadt Doha, wenn man weg vom Meer fährt, in Richtung des Landesinneren. Nach den bürgerlichen Vierteln, die Beverly Hills Gardens oder Champs Elysees Gardens heißen, kommt die „Industrial Area“ von Doha. Hier sind die Straßen voller Schlaglöcher und liegen gebliebener Plastikflaschen, Gehwege sind nicht asphaltiert, sondern staubiges, unebenes Geläuf. Vor den Häusern der Wanderarbeiter hängt die Wäsche auf der Leine, in den Höfen der Auto- und Metallbetriebe stapelt sich Schrott.
Die Skyline von Doha ist von hier aus nicht zu sehen, man braucht mindestens eine Dreiviertelstunde mit dem Bus, um Anschluss ans Metro-Netz zu haben. Die Industrial Area ist der Teil, den Katar nicht präsentieren will, weil dort andere den Preis für den Reichtum der Oberen bezahlen. Eine der Menschenrechtsorganisationen, die den DFB im Vorfeld der WM beriet, meinte, das könnte doch ein Zeichen sein, das die Nationalmannschaft setzen sollte: Mal mit Medientross in diese Gegend fahren. Es wurden dann überhaupt keine Zeichen gesetzt, von niemandem. „Ich bin Trainer und nicht für politische Stellungnahmen zuständig“, sagte Frankreichs Coach Didier Deschamps.
Irgendwann war die WM ein Turnier, das sich ausschließlich über seine Spiele definierte. Über stürzende Favoriten, gefeierte Außenseiter, Dramen im 90-Minuten-plus-Nachspielzeit-Takt. Die großen Stars brillierten, weil sie in Topform waren – anders als am Ende der Saison im Sommer. Sportlich war es eine bemerkenswerte WM. Doch eine freie WM war es nur, wenn man nach den Regeln von Katar spielte.
Die Offenheit des Landes ist eine Illusion. Als Journalist konnte man das erfahren. Im katarischen Medienzentrum wurde angeboten, man könne Interviews mit offiziellen Sprechern Katars führen – man müsse nur ein Online-Formular ausfüllen, Wunschzeit, -ort und -sprache eingeben und das Thema wählen. Wir schreiben, wir würden gerne ein Interview führen über die Beziehung von Katar und Deutschland und wie sie sich durch den World Cup verändert habe. Wir hinterlassen unsere Kontaktdaten.
Es meldet sich niemand.