Bethlehems brüchiger Weihnachtsfrieden

von Redaktion

VON WIN SCHUMACHER

Bethlehem – Nur Kinder kommen aufrecht hindurch, Erwachsene müssen sich ducken, wollen sie die Geburtsstätte Jesu Christi besuchen. Gerade mal 1,20 Meter ist das Eingangsportal der Geburtskirche in Bethlehem hoch. Vor der antiken Basilika wartet an diesem sonnigen Morgen im Advent eine lange Schlange von Pilgern aus aller Welt. Auch Issa Thaljieh steht vor der Kirche. Thaljieh, 39, ist griechisch-orthodoxer Priester. Die Griechisch-Orthodoxen sind neben den römisch-katholischen Gläubigen die wichtigste Konfession christlicher Palästinenser in Bethlehem. „Hier ist der Ort, wo der Mensch Friede und Liebe findet“, sagt Thaljieh und strahlt. Dann fügt er hinzu: „Trotz der Zerstörungen durch die Besatzung, trotz der Trennmauer und all unserer Probleme.“

Der Priester ist nur eine Minute von der Geburtskirche entfernt aufgewachsen. „Jeden Tag habe ich ihre Glocken läuten hören.“ So wie viele Bethlehemer freut sich Thaljieh in diesem Jahr besonders auf Weihnachten. Alle hoffen auf eine Rückkehr zur Normalität. In den letzten zwei Jahren kamen im Advent kaum Touristen. „Es war einfach traurig“, sagt Thaljieh. „Corona hat so viele Pilger aufgehalten. Für viele in Bethlehem war es auch eine sehr schwere Zeit, weil sie ohne die ausländischen Gäste keine Einnahmen hatten.“

Nun wuselt es vor der Geburtsgrotte wie einst vor der Pandemie. Auf 100 000 Pilger und eine Hotelbelegung von 80 Prozent hoffen die Geschäftsleute im Dezember. Mehr als die Hälfte der Wirtschaft in Bethlehem hängt vom Tourismus ab. Nach Angaben des Palästinensischen Zentralbüros für Statistik hat der Tourismussektor 2020 und 2021 rund 1,5 Milliarden US-Dollar verloren.

Die Hoffnung auf ein einträgliches Geschäft wird jedoch überschattet. In den vergangenen Wochen kam es fast täglich zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Israelis und Palästinensern. „Wir leben schon lange in einer schwierigen politischen Lage. Als Jesus geboren wurde, war es unter römischer Besatzung. Jetzt haben wir die israelische Besatzung“, sagt Thaljieh. „Aber wir hoffen und beten in der Weihnachtszeit und jeden Tag für Frieden, in Palästina und überall in der Welt, auch in der Ukraine.“

Bethlehem mit seinen 30 000 Einwohnern liegt im Westjordanland, nur zehn Kilometer südlich von Jerusalem. Das Westjordanland ist Teil der Palästinensischen Autonomiegebiete. Unter den 193 UNO-Mitgliedern ist ihr Status umstritten, nur 138 erkennen Palästina als unabhängigen Staat an. Deutschland und die USA nicht – und auch nicht Israel. Die Palästinensische Autonomiebehörde bestimmt nur über die sogenannten A-Gebiete, erhebliche Teile des Westjordanlands sind nach wie vor israelisch kontrolliert. Für besondere Spannungen sorgt der Bau immer neuer israelischer Siedlungen, auch in Ostjerusalem, das von den Palästinensern als Hauptstadt beansprucht wird. Israel sieht Jerusalem als unteilbar an. Zeugnis des Dauerkonflikts ist die israelische Sperranlage, die Bethlehem von Jerusalem trennt, eine teils acht Meter hohe Betonmauer.

Mehr als 150 Palästinenser kamen in diesem Jahr im Westjordanland und in Ostjerusalem bei Zusammenstößen mit israelischen Soldaten ums Leben. Nach Angaben Israels waren die meisten bewaffnete Angreifer. Unter den Toten waren auch Steine werfende Jugendliche und Unbeteiligte. Internationale Wellen schlug der Tod der palästinensisch-amerikanischen Al-Jazeera-Reporterin Shireen Abu Akleh. Etlichen der Zusammenstöße waren Terroranschläge vorausgegangen, bei denen mehr als 30 israelische Zivilisten, Polizisten und Soldaten starben. Seit 2015 hat der Konflikt nicht mehr so viele Opfer gefordert. Dass Israel künftig von einem Bündnis von Benjamin Netanjahus Likud mit rechtsextremen und ultrareligiösen Parteien regiert werden dürfte, dämpft die Stimmung bei allen, die auf Frieden hoffen. Gerade bei die palästinensischen Gebiete betreffenden Fragen dürften künftig Hardliner das Sagen haben. Auch viele Israelis verfolgen die Koalitionsverhandlungen mit Argwohn.

Während sich Berichte zu Gewalt zuletzt auf Jenin, Nablus, Hebron und israelische Siedlungen konzentrierten, blieb es in Bethlehem eher ruhig. In den Gassen rund um die Geburtskirche bestimmt eine friedliche, bisweilen ausgelassene Stimmung die milden Dezembertage. Ein riesiger Weihnachtsbaum überragt die schmucklose Fassade der Basilika, daneben steht eine Konzertbühne. Bethlehem empfängt die Pilger mit blinkendem Weihnachtszauber, eine Ermattung angesichts der wenig hoffnungsvollen Zukunft können viele Einheimische aber nicht verbergen.

In der Basilika führen von Pilgern ausgetretene Stufen in die Geburtsgrotte zu einem silbernen Stern mit der Inschrift „Hic de virgine Maria Iesus Christus natus est“ (Hier wurde Jesus Christus von der Jungfrau Maria geboren). Gruppen aus Äthiopien, Rumänien und von den Philippinen stehen an. Den Pilgern bleiben nur Momente, bevor die nächsten Gläubigen im Weihrauchnebel betend niederknien, da, wo einst die Krippe gestanden haben soll.

Würde das Heilige Paar heute von Nazareth nach Bethlehem reisen, Maria und Josef würden auch zur Weihnachtszeit leicht eine Herberge finden – stünden aber vor einem anderen Hindernis. Seit die Sperranlage Bethlehem von Jerusalem trennt, ist der vormals keine 20 Autominuten entfernte Geburtsort Jesu vom Ort seiner Kreuzigung und Auferstehung abgeschnitten. Für die israelische Regierung ist die Mauer ein Schutz vor Terroranschlägen. Für die Palästinenser ist sie eine Apartheidsmauer, die die Menschen in Israel und im Westjordanland trennt.

„Die Mauer nimmt uns die Luft zum Atmen“, sagt Jack Giacaman, 51. „Meine 15 und 19 Jahre alten Töchter, die früher an den Strand und nach Jerusalem konnten, fühlen sich wie in einem Gefängnis.“ Die Familie betreibt in dritter Generation eine Krippenschnitzerei direkt hinter der Geburtskirche (siehe Interview rechts). Ihre Werkstätten liegen unweit des Orts, an den Maria der Überlieferung nach floh, um dem von Herodes angeordneten Kindermord zu entgehen. Französische Pilger beäugen gerade Holzkrippen, Weihnachtssterne und Obstschalen aus poliertem Ölbaumholz.

Von Giacamans Dachterrasse sieht man auf die Ölbaumhaine von Bait Sahur. Dort hüteten der Überlieferung nach die Bethlehemer Hirten „des Nachts ihre Herde“. Wo einst die Engel ihr „Frieden auf Erden“ sangen, trennt heute Stacheldraht die israelische Siedlung Har Choma von arabischen Dörfern.

Auch Sameer Lolas, 59, hat eine Krippenschnitzerei – direkt neben der Sperrmauer. Der Kunsthandwerker hat auch einen Souvenirladen. Nachdem Werke des britischen Künstlers „Banksy“ immer mehr Touristen an den Mauerabschnitt lockten, erschien ihm das lukrativ. „Mit der Pandemie konnte ich direkt wieder schließen“, erzählt er. „Langsam kommen die Touristen wieder, aber wer weiß, wie lange noch.“

Von seiner Werkstatt blickt Sameer Lolas auf die mit Graffiti überzogene und Stacheldraht besetzte Betonwand. Der Schattenriss eines Esels mit Engelsflügeln steht dort einem israelischen Soldaten mit Maschinengewehr bei der Passkontrolle gegenüber. „Mary cant move“ – „Maria kann nicht weg“ hat jemand in den Farben der palästinensischen Flagge darüber geschrieben. „Zu Weihnachten wünsche ich mir vor allem, dass hier wieder eine Art Alltag einkehrt“, sagt Lolas. Daran zu glauben, fährt er fort, falle ihm aber schwer.

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