München – Es war wahrscheinlich nicht seine Absicht, aber Johann Wolfgang von Goethe hat sich um den Weihnachtsbaum verdient gemacht. Der Dichterfürst steht noch am Anfang seiner Karriere, als er 1774 „Die Leiden des jungen Werthers“ verfasst und ebenda in einer Szene einen Weihnachtsbaum beschreibt. Es ist der junge Werther, der bei einem Besuch seiner angebeteten Lotte von den Zeiten spricht, als einen der Anblick des „aufgeputzten Baums mit Wachslichtern, Zuckerwerk und Äpfeln in paradiesisches Entzücken setzte“. Dieser kleine Satz gilt als eine der ersten literarischen Erwähnungen eines Weihnachtsbaums.
Bemerkenswert findet Thomas Schindler, Oberkonservator und Referent für Volkskunde am Bayerischen Nationalmuseum, mit welcher Beiläufigkeit Goethe seinen Protagonisten von dem geschmückten Baum schwärmen lässt. „Es ist also anzunehmen, dass dieser Brauch zu dieser Zeit zumindest in gewissen Kreisen bekannt war“, sagt der Volkskundler, um aber sofort einzuschränken: „Wissenschaftlich betrachtet liegt vieles beim Weihnachtsbaum noch im Dunkeln.“
Bemerkenswert. Schließlich gibt es kaum einen Brauch, den die Deutschen intensiver pflegen als den des Christbaums. In fast jedem Haushalt wird er aufgestellt (siehe Artikel rechts), er wird geschmückt, besungen und ist unbestrittener Mittelpunkt der häuslichen Weihnachtsdekoration. „Trotzdem“, sagt Schindler, „wurde der Brauch des Weihnachtsbaums bisher nicht systematisch erforscht.“
Draußen vom Walde kommt er her, so viel ist sicher. Und dass sich der Weihnachtsbaum in Deutschland erst in den Wirtschaftswunder-Jahren in allen Schichten der Bevölkerung durchgesetzt hat. Gerade mal 70 Jahre ist es also her, dass der Weihnachtsbaum hierzulande flächendeckend die guten Stuben eroberte. „Wohlstand ist das Schlüsselwort“, sagt Schindler. „Damals konnten sich erstmals auch Arbeiter-Familien einen solchen Baum leisten.“ Davor war der Weihnachtsbaum Adel und gehobenem Bürgertum vorbehalten. Und davor? Da ist die Quellenlage noch dünner als ein Stern aus Goldpapier.
Aber von Anfang an: Schon bevor das Christkind in Bethlehem geboren wird, ist in vielen Kulturen der Brauch bekannt, sich die dunkle Winterzeit mit grünen Zweigen aufzuhellen. Die Römer schmücken ihre Häuser mit Lorbeer als Symbol für Lebenskraft, bei Germanen und Kelten sollen es Zweige der Stechpalme gewesen sein, die sie zum Schutz vor Verwünschungen in die Wohnstätten holen. Auch im Mittelalter ist dieser Brauch noch verbrieft. Da macht sich etwa der Straßburger Humanist Sebastian Brant 1494 in seiner Moralsatire „Das Narrenschiff“ über die Sitte lustig, zu Neujahr Tannenzweige ans Haus anzubringen, weil man sich davon ein längeres Leben erhoffte.
Zu dieser Zeit taucht auch der Weihnachtsbaum erstmals auf, in Estland, Lettland, aber auch im heutigen Unterfranken. In einer Akte der Kurmainzer Fürstbischöfe von 1527 ist da von einem „weiennacht baum“ aus dem Stockstädter Wald die Rede. „Unklar ist allerdings“, merkt Schindler an, „ob es sich dabei schon um geschmückte Weihnachtsbäume handelt, oder schlicht um Bäume, die zur Weihnachtszeit geschlagen wurden.“ Als sicher gilt dagegen, dass 1539 im Straßburger Münster ein dekorierter Weihnachtsbaum stand.
Gerade in den Chroniken aus der Region Elsass häufen sich im 16. Jahrhundert Meldungen, die mit dem Weihnachtsbaum zu tun haben. Meist geht es dabei um Verbote und Verordnungen, wie etwa ein Eintrag aus dem Jahr 1561 zeigt, in dem es heißt, dass jeder Bürger zu Weihnachten nur einen Baum von höchstens acht Schuh aus dem Wald holen dürfe. Es ist diese Häufung von Nachrichten, die Schindler vermuten lässt, dass eine Wiege des Weihnachtsbaums im Elsass gestanden hat.
Und wer hat’s erfunden? Das weiß man nicht, zumindest ist kein entsprechendes Weihnachtsbaum-Patent bekannt. Was man aber weiß, ist, dass es bereits im Mittelalter in den Kirchen eine Art Vorfahren des Christbaums gegeben hat: den Paradiesbaum. Dieser wurde im Rahmen des Paradiesspiels aufgestellt, in dem den Gläubigen die Geschichte von Adam und Eva samt Sündenfall vorgespielt wurde. Der Paradiesbaum, in der Regel ein Nadelbaum, wurde mit roten Äpfeln behängt, von denen Adam und Eva dann aßen und so der Bibel nach die Sünde auf die Welt brachten.
Diese kirchliche Requisite ist irgendwie in die Stuben der Zunfthäuser gelangt, wo handwerkliche Gilden für ihre Weihnachtsfeier einen kleinen Tannen- oder Buchsbaum aufstellen und mit allerlei paradiesischen Leckereien schmücken: mit Äpfeln natürlich, aber auch mit Datteln, Nüssen und Brezen, die die Kinder zu ihrer großen Freude aufessen dürfen.
Weniger begeistert sind die Kirchen, die diesem neuen Brauch wenig Gutes abgewinnen konnten. 1647 wettert der evangelische Münsterprediger Johann Conrad Dannhauer gegen den mit Zucker und Puppen geschmückten „Weynacht Baum“ und beklagt, dass damit mehr Zeit zugebracht werde als mit religiösen Verrichtungen. Genutzt hat es nichts. Vor allem in protestantischen Gebieten gewinnt der Weihnachtsbaum an Popularität. „Für die katholische Kirche dagegen ist die Krippe das alleinige und wichtigste Symbol der Weihnachtszeit“, sagt Daniela Sandner vom Bayerischen Landesverein für Heimatpflege. Lange Zeit gilt deshalb der Grundsatz: Protestanten haben einen Weihnachtsbaum, Katholiken eine Krippe. Erst 1982 steht im Vatikan der erste Christbaum.
Doch noch einmal kurz zurück ins 17. und 18. Jahrhundert: In dieser Zeit wandert der Weihnachtsbaum allmählich vom protestantischen Norden in Richtung des katholischen Südens. 1768 ergeht in Nürnberg, das damals noch nicht zu Bayern gehört, ein Edikt gegen das „Umhauen und Hereinbringen junger Waldbäume, die zu Christbäumen verwendet werden“. 1792 schreitet die Polizei der Marktgrafschaft Ansbach-Bayreuth gegen Fällaktionen „grüner und anderer Bäume bei herannahender Weihnachtszeit“ ein.
Erst als die fränkischen Regionen bayerisch werden, erreicht der Weihnachtsbaum das tiefkatholische Bayern. Als Importeurin gilt Bayerns erste Königin Karoline von Baden, selbst Protestantin. Anfang des 19. Jahrhunderts wird auf ihren Einfluss hin im Hof der Residenz der erste offizielle Weihnachtsbaum Münchens aufgestellt.
Der Adel zieht natürlich nach. „Was bei Hofe passiert, ist schließlich schick und modern, da will niemand nachstehen“, sagt Sandner. Es folgt das reiche Bürgertum aus denselben Beweggründen, dann das Beamtentum. Um 1860 heißt es für das schwäbische Zusmarshausen: „Den Christbaum kannte man früher nicht. Jetzt aber hat er sich, durch die Beamten veranlasst, eingebürgert.“
Geschmückt werden die Christbäume in Bayern zunächst nicht anders als anderswo, mit Zuckerwerk und Backwaren, mit Papierblumen, Nüssen und Äpfeln, auch wenn in manchen Regionen Eigenheiten entstehen (siehe unten). Ab 1850 kommen gläserne Christbaumkugeln aus Thüringen in Mode, deren Form und Farbe auch an die rotbäckigen Äpfel erinnern, die einst am kirchlichen Paradiesbaum hingen. Die traditionelle Farbe für den Weihnachtsschmuck ist deshalb bis heute: ein schimmerndes, glänzendes Rot.