Jung, männlich, oft mit Fluchterfahrung

von Redaktion

VON MATTHIAS SCHNEIDER

München/Berlin – Vermummte mit Schreckschusswaffen, brennende Mülltonnen, brennende Autos: Die Berliner Silvesternacht fügt sich ein in eine unrühmliche Reihe von Krawallen in der Hauptstadt. Doch heuer haben die Ausschreitungen eine neue Qualität angenommen: Rettungskräfte, die in Hinterhalte gelockt wurden, Böller und Raketen als Waffen gegen Menschen. Die Ursachen fasst Jochen Kopelke, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), wie folgt zusammen: „Gruppendynamische Prozesse, Alkoholmissbrauch, Sozialisationsdefizite und die Verfügbarkeit pyrotechnischer Gegenstände.“

Besonders über die Sozialisationsdefizite ist eine heftige Debatte entbrannt. Die Integrationsbeauftragte des Berliner Bezirks Neukölln, Güner Balci, betonte, „dass wir Kinder und Jugendliche haben, die mit häuslicher Gewalt als Alltag aufwachsen“. Diese Jugendlichen seien zwar auch in den Problemvierteln nur eine Minderheit, „allerdings reicht ein Einziger, um ein ganzes Haus zu terrorisieren“.

Wie Rainer Wendt, Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), sagte, kommen viele der Silvester-Randalierer aus dem „Migrantenmilieu“. Wendt fordert Erklärungen von Seiten der Politik. Wenn verhindert werden solle, dass rechte Populisten die Geschehnisse der Nacht für politische Zwecke nutzten, müsse die Herkunft der Täter genau festgestellt und auch benannt werden. In den sozialen Medien fordert die AfD bereits: „Einreise- statt Böllerverbot!“

Auch für Ahmad Mansour zeigt sich ein Muster: „Die Zielgruppe ist meist jung, männlich, oft mit Fluchterfahrung. Wir sehen in Berlin, Stuttgart, Paris und Brüssel das Gleiche“, erklärt der Psychologe und Experte für Extremismusprävention. „In Berlin fahren Rettungskräfte viele Einsätze nicht ohne Polizeischutz, wir haben sogar in Freibädern Gewalt.“

Um dem zu begegnen, so Mansour, müsse der Sicherheitsapparat konsequent arbeiten: „Wir brauchen keine schärferen Gesetze – aber die Täter müssen ermittelt und im Rahmen der Möglichkeiten härter bestraft werden.“ Dafür müsse vor allem der Polizei der Rücken gestärkt werden: „Die Polizei ist verunsichert, hat Angst, als rassistisch und gewaltorientiert abgestempelt zu werden“, warnt Mansour. Weil die Konsequenzen häufig ausblieben, nähmen viele Jugendliche den Rechtsstaat als schwach wahr.

Auch Heinz Buschkowsky, Ex-Bezirksbürgermeister des Berliner Bezirks Neukölln, machte gegenüber dem Sender ntv die „Kuscheljustiz“ der vergangenen Jahre verantwortlich: „Es gibt keine Konsequenz in dieser Gesellschaft, das ist das Problem“, sagte der SPD-Politiker.

Für Mansour liegt das Problem in der Erziehung. „Vielen wird, auch über den Gangsta-Rap, gezeigt, dass Männlichkeit testosterongesteuert und gewaltbereit ist. Dazu kommt die Stilisierung der Polizei als Feindbild.“ Dass fragwürdige Rollenbilder eine Ursache der Exzesse sein könnten, lässt sich an den in Berlin festgenommenen Randalierern ablesen: 98 Männer und fünf Frauen. Alle sind wieder auf freiem Fuß.

Mansours Lösung: „Wir müssen den jungen Menschen helfen, zu sich selbst zu finden, und auch Begegnungen mit der Polizei, dem Staat ermöglichen.“ Das gelte auch für jugendliche Inhaftierte: „Wir dürfen die Leute im Gefängnis nicht nur verwalten, wir müssen sie resozialisieren und auf Augenhöhe mit ihnen arbeiten.“ Gerade in Berlin, sagt Mansour, gehe die Sozialarbeit – vor allem in den Schulen – in die falsche Richtung: „Es ist nicht so, dass keine finanziert würden, kein Geld da ist. Aber die Projekte entsprechen leider nur der Linie der rot-rot-grünen Regierung.“ Denn nur mit Antirassismus-Seminaren käme man nicht weiter. „Wir brauchen die Wertevermittlung nicht nur in Workshops, sondern auch im Alltag“, so Mansour. Weil das ausbleibe, seien „die Lehrer komplett überfordert“.

Gleichzeitig warnt Mansour vor falscher Toleranz. Es könne nicht sein, dass Menschen, gerade mit Fluchterfahrung, nach Deutschland kommen und Straftaten begehen. Daran ändere auch eine sozial schwache Herkunft nichts: „Egal, wie abgehängt ich bin, das ist keine Rechtfertigung, Polizisten anzugreifen. Vielleicht sind die Leute ja auch abgehängt, weil sie so gewaltbereit sind.“

Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel findet es aber falsch, jetzt eine Debatte über ein generelles Integrationsversagen aufzumachen. „Die Integrationsbemühungen und die Teilhabemöglichkeiten funktionieren ja teils sehr gut“, sagt der SPD-Politiker. Aber einzelne Personen erreiche man einfach nicht. „Die behaupten, dass hier eigene Regeln gelten, dass der Kiez ihnen gehört“, berichtet Hikel. „Das sind oft Jugendliche, die in der Schule nicht gerade Erfolgserlebnisse hatten und die dann ohne Perspektive dastehen.“ Die Corona-Pandemie könnte dies noch verstärkt haben, weil Schulen und Jugendeinrichtungen zeitweise geschlossen waren, vermutet Hikel. Alternativlos ist für ihn aber auch: Wo Kriminalität und Gewalt herrschen, müsse der Staat durchgreifen. „Das Erste ist klarzumachen, dass der öffentliche Raum sicher ist.“

Berlin kam auch nach der Krawallnacht nicht ganz zur Ruhe: Unbekannte haben am Montagnachmittag in Berlin-Neukölln das Kamerateam eines Fernsehsenders mit Pyrotechnik angegriffen. Nach ersten Erkenntnissen befanden sich die beiden 20 und 28 Jahre alten Journalisten gegen 15.20 Uhr zu Dreharbeiten an einer Straßenkreuzung. Dabei seien sie von mehreren Jugendlichen gezielt mit pyrotechnischen Gegenständen beworfen worden, teilte die Berliner Polizei am Dienstag mit. mit dpa und afp

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