In schwierigen Gewässern

von Redaktion

VON DOMINIK GÖTTLER

Lissabon – Während hinter ihr der Tigerhai gemächlich seine Kurven zieht, sucht Annalena Baerbock nach den Kindern. Die Außenministerin steht vor dem größten Indoor-Aquarium Europas, dem Ozeanarium in Lissabon, hat aber erst mal keine Augen für die 12 000 Meerestiere, die sich hinter der Glaswand tummeln. Sie winkt so lange, bis drei portugiesische Schüler, Teilnehmer eines Umweltbildungsprojekts der örtlichen Ozeanstiftung, zu ihr ans Aquarium kommen. Haie, Kinder, die Ministerin. Die Auslöser der Kameras rattern im Akkord. Der Erfolg einer Auslandsreise hängt nicht nur von der Diplomatie im Hinterzimmer ab. Sondern auch von den Bildern, die hinaus in die Welt gehen.

Danach ein Kurzrundgang durchs Ozeanarium, die Kinder bleiben immer an Baerbocks Seite. Die portugiesischen Aquariumsbesucher wundern sich, wer diese Frau in dem lilafarbenen Kostüm ist, die so einen Tross hinter sich herzieht. Eine deutsche Urlauberin erkennt die Ministerin und winkt. Nach gut zehn Minuten geht’s in Richtung Hinterausgang. Zackzack. Der nächste Termin wartet. Das Protokoll ist heilig im durchgetakteten Alltag einer Außenministerin.

Seit gut einem Jahr steht Annalena Baerbock, 42, an der Spitze des Auswärtigen Amtes, einem Behördenkoloss mit gut 12 0000 Mitarbeitern und 227 Auslandsvertretungen. Auf ihren Reisen gibt sie sich direkt und unerschrocken und hebt sich damit ab von der blassen Amtszeit ihres Vorgängers Heiko Maas. Bei vielen Kollegen im Ausland hat sie sich dadurch Respekt erarbeitet. Und in Deutschland? Zum Amtsantritt trauten ihr laut einer Umfrage zwei von drei Befragten die Aufgabe nicht zu. Seitdem ist die erste Frau auf diesem Posten dank klarer Ansagen und wirkmächtiger Bilder zur beliebtesten Politikerin des Landes aufgestiegen. Doch immer wieder stößt der neue Stil auch an Grenzen.

Eine feministische Außenpolitik hat Baerbock für ihre Amtszeit angekündigt. Aber was verbirgt sich dahinter? Ist das mehr als eine reine PR-Schablone für die progressive Wählerschaft? In Lissabon, ihrer ersten Auslandsreise in diesem Jahr, sitzt sie in einem Kinosaal des Orient-Museums und erklärt den portugiesischen Botschaftern, die sich dort zu ihrer jährlichen Konferenz treffen, was sie sich darunter eigentlich vorstellt. „Um ehrlich zu sein, haben wir uns das von den Schweden abgeschaut“, gesteht Baerbock. Schweden ging es unter anderem darum, die Sichtbarkeit von Frauen und Mädchen als politische Akteurinnen zu erhöhen. Allerdings will die neue rechte Regierung von dem Begriff nichts mehr wissen. Baerbock spricht in Lissabon von Lücken im internationalen Recht bei der Gleichstellung von Frauen. Von mehr Frauen in Top-Positionen in ihrem Haus und in den Botschaften. Und von ihren Treffen auf den Auslandsreisen – so sprach sie in Nigeria etwa mit Frauen, die von der Terrorgruppe Boko Haram entführt, zwangsverheiratet, vergewaltigt wurden.

Baerbock hat seit Amtsantritt 52 Auslandreisen absolviert und dabei 46 Länder besucht. Ein Mammutprogramm. Beispiel Portugal: Treffen mit dem Außenminister, Gespräche mit Journalisten, ein paar Stunden Schlaf, Botschafterkonferenz mit Rede, Diskussion und Presserunde, ein Blitzbesuch am Ehrengrab von Aristides de Sousa Mendes, der im Zweiten Weltkrieg tausenden Flüchtenden das Leben rettete, danach die Tour am Aquarium, Arbeitsmittagessen und zurück zum Flugzeug. All das in weniger als 24 Stunden, Luft holen unmöglich. Am Abend ist sie zurück in Berlin. Es ist Mittwoch. Der Tag, an dem sie versucht, zum Abendessen bei ihren Töchtern zu sein. Kürzlich verriet sie, dass sie mit ihnen ein Codewort vereinbart hat. Leuchtet dieses Wort auf ihrem Handy auf, verlasse sie jede Sitzung und rufe an. Einen Tag nach der Lissabon-Reise geht es weiter nach London.

Im Ausland ist jede Minute vom Protokoll durchgetaktet. Doch es gibt Momente, in denen eine Außenministerin trotz des Riesenapparats um sie herum auf sich allein gestellt ist. Zum Beispiel im Juli in der Türkei, beim „lieben Mevlüt“, dem Außenminister Mevlüt Çavusoglu. Auf der gemeinsamen Pressekonferenz kommt es zum offenen Schlagabtausch über die türkischen Drohungen gegen Griechenland, den Umgang mit der Opposition im Land und die Militäroffensive in Syrien. Es wird hitzig. Irgendwann lässt Çavusoglu anklingen, mit Merkel sei das alles leichter gewesen. Baerbock dürfte es als Kompliment verstehen.

Es sind forsche Auftritte wie diese, die der Deutschen Respekt verschaffen. US-Außenminister Anthony Blinken nannte sie eine „starke und pragmatische Führungspersönlichkeit“. Baerbocks Selbstbewusstsein geht so weit, dass sie dem Bundeskanzler vor dessen China-Reise öffentlich noch ein paar Ratschläge mit auf den Weg gab. Er solle bitte nicht vergessen, China an die Einhaltung der Menschenrechte, faire Wettbewerbsbedingungen und die Anerkennung internationalen Rechts zu erinnern. Ein kleiner Affront gegenüber dem Kanzler, der zeigt, wie unterschiedlich die beiden auf China blicken.

Deutlich wird das auch bei der Nationalen Sicherheitsstrategie, bei der Baerbocks Haus gerade federführend ist. Das Papier ist noch nicht mal im Kabinett gelandet, da gibt es schon Ärger. Dem Kanzleramt seien die Passagen zu China zu scharf, heißt es. Baerbock will eine neue China-Politik. Vor den portugiesischen Botschaftern in Lissabon sagt sie: „Wir dürfen die Fehler, die wir mit Russland gemacht haben, mit China nicht wiederholen.“ Sie meint die Abhängigkeit, vor allem bei den Lieferketten. Wenn Deutschland beispielsweise wie zuletzt nicht in der Lage sei, seine Bürger mit Medikamenten zu versorgen, „dann haben wir offensichtlich ein Problem“. Scholz hingegen hat angesichts des krisenpolitischen Flächenbrands aus Krieg, Inflation und Energiemangel offenbar wenig Lust auf neue Glutnester. Ob sich die Bundesregierung wie geplant bis zur Münchner Sicherheitskonferenz im Februar auf eine Linie einigen kann? Fraglich.

Die im Koalitionsvertrag vereinbarte „wertebasierte Außenpolitik“, die Baerbock vertritt, ist ein Spagat, der manchmal schmerzhaft zwickt – nicht nur wenn es um China geht. Als die Ampel Waffen- und Munitionslieferungen an Saudi-Arabien genehmigte, ging ein Aufschrei durch die Grünen-Basis. Auf dem Parteitag musste sich Baerbock verteidigen und verwies auf Altverträge und die nötige europäische Zusammenarbeit. Als im Iran bei den anhaltenden Protesten ausgerechnet die Frauen das Regime herausforderten, dauerte es lange, bis der iranische Botschafter einbestellt wurde. Feministische Außenpolitik, war da was?

Und selbst zu Baerbocks direktem Auftreten im Ausland und dem scharfen Kurs gegen autoritäre Regime gibt es kritische Stimmen. So sagte Ex-SPD-Chef Martin Schulz dem „Spiegel“: „Man kann nicht ausschließlich mit dem erhobenen moralischen Zeigefinger Außenpolitik machen.“ So bestehe die Gefahr, Schwellenländer noch weiter in die Arme von China und Russland zu treiben.

Ja, Russland. Annalena Baerbock hatte sich viel vorgenommen für ihre Amtszeit. Sie hat sich die sogar internationale Klimapolitik ins Haus geholt, um Vizekanzler Habeck nicht als alleinigen Klimamacher dastehen zu lassen. Aber überschattet wird die gesamte Agenda nun vom russischen Überfall auf die Ukraine. Baerbock, vor Kriegsausbruch klare Gegnerin von Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, wechselte schnell den Kurs.

Sie besuchte als erstes Regierungsmitglied Butscha und Kiew. Seitdem trommelt sie unermüdlich für gebündelte Hilfe des Westens. Und deutete dabei immer wieder an, dass auch die Lieferung von Kampfpanzern für sie kein Tabu wäre. Die offizielle Linie blieb aber lange: alle weiteren Schritte nur in Absprache mit den Partnern. Bis Olaf Scholz vergangene Woche nun doch gemeinsam mit den USA die Lieferung von Schützenpanzern an die Ukraine ankündigte. Gilt also doch noch die alte Merkel-Regel: Außenpolitik wird im Kanzleramt gemacht?

Es ist wie so oft in diesen Tagen. Der Krieg überschattet alles. Dabei geht es in Lissabon eigentlich primär ums Klima und den Schutz der Meere. Deshalb der Besuch im Ozeanarium. Dort stehen die drei jungen Schüler nach der kleinen Rundtour etwas verloren vor der Glastür, durch die Baerbock gerade ohne Verabschiedung mit ihrem Tross verschwunden ist. Plötzlich kommt die Ministerin noch einmal zurückgeeilt. „Ich wusste nicht, dass wir uns nicht mehr sehen“, sagt sie, verabschiedet sich – und wendet sich an die Menschentraube um sie herum. Einer der Schüler hat Geburtstag. Der ganze Tross stimmt auf Anweisung der Ministerin ein Geburtstagsständchen an. Baerbock dirigiert und lächelt. Die Kameras klicken ein letztes Mal. Dann rollt die Kolonne weiter. So will es das Protokoll.

Artikel 2 von 5