Kuckum – Es klingelt. Und Marita Dresen ist genervt. „Amazon oder Post“, sagt sie. Täglich bekommen die Dresens Pakete und Briefe, die eigentlich für eine andere Familie bestimmt sind. Die hat dieselbe Adresse wie die Dresens, wohnt aber ganz woanders. Der Grund: Den Ort Kuckum gibt es zweimal. Inklusive Straßennamen, als hätte jemand Kuckum kopiert.
Das Original dürfte eigentlich bald nicht mehr existieren. Kuckum ist eines von mehreren Dörfern im Rheinischen Braunkohlerevier, die abgerissen werden sollten, damit der Energiekonzern RWE wie im benachbarten Lützerath die darunterliegende Braunkohle abbaggern kann. „Ich habe mein halbes Leben mit dem Wissen gelebt, dass die unsere Heimat irgendwann abreißen“, sagt Marita Dresen. Ihr 31-jähriger Sohn David kennt es gar nicht anders. „Für mich war das Gefühl da: Das ist nicht für ewig.“
Dass Kuckum noch steht, ist auch das Verdienst der Dresens. David, seine beiden Geschwister und Mutter Marita kämpfen seit Jahren mit der Initiative „Alle Dörfer bleiben“ gegen den Abriss. Mit Erfolg: Kuckum bleibt. Zumindest vorerst. Der Kompromiss: Lützerath wird abgebaggert, dafür bleiben die übrigen Dörfer und der Braunkohle-Ausstieg wird auf 2030 vorgezogen. „Es gab ein großes Fest, aber so richtig realisiert hat man das noch nicht“, sagt David Dresen. Vorerst bestehe nur ein „Agreement“ zwischen Land und RWE, wie er sagt. „Wenn es mit der Energiewende nicht klappt, kann es sein, dass Garzweiler doch ausgebaut wird.“
So richtig zur Ruhe kommen sie trotz des Erfolgs nicht. Denn das Kuckum von früher wird es nie wieder geben. Seit sich abzeichnete, dass das Dorf abgerissen werden soll, haben viele Bewohner ihre Häuser verkauft. Von einst knapp 500 Einwohnern sind etwa 40 übrig. „Viele haben gesagt: Ihr seid bekloppt, wenn ihr hier bleibt“, sagt Marita Dresen. Doch sie blieben. Ihre Familie lebt seit Generationen hier auf einem kleinen Hof, ist tief mit der Geschichte des alten Niederrhein-Dorfs verwurzelt. Jetzt stehen viele Häuser leer. Das lockt nachts Einbrecher. „Da hört man es Hämmern und Klopfen und weiß: Die holen wieder Kupferrohre aus den Wänden“, erzählt Marita Dresen.
Und dann ist da noch die Sache mit der Post. Knapp acht Kilometer von Kuckum entfernt ist längst eine neue Siedlung entstanden. Verwirrenderweise heißt sie auch Kuckum. Mit einem „neu“ in Klammern dahinter. Viele der alten Straßen- und Ortsnamen hat man mitgenommen – keiner hatte damit gerechnet, dass es die Originalstraßen noch lange geben würde. So gibt es zum Beispiel die Straße „Zur Niersquelle“ in Kuckum (neu). „Dabei ist da gar keine Quelle, die ist hier. Das ist doch bescheuert“, schimpft Marita Dresen.
Auch ihre Adresse gibt es zweimal – und täglich kommt die Post der anderen Familie aus Kuckum (neu) bei Dresens an. „Es wäre fast zum Lachen“, sagt Marita Dresen – müsste sie sich nicht jedes Mal darum kümmern, dass Pakete und Briefe zur richtigen Adresse kommen. Oft fahren sie die acht Kilometer ins neue Kuckum und bringen die Sachen persönlich vorbei. Und ein bisschen kommt dann jedes Mal die schmerzliche Erinnerung, dass die Heimat, so wie sie mal war, verloren ist.
Doch die Dresens haben Hoffnung. Mit den Klimaaktivisten im Nachbardorf Lützerath stehe man in einem engen Austausch. Manchmal kämen Leute aus dem Camp vorbei, um sich aufzuwärmen, kurz zu duschen oder Wäsche zu waschen. „Ich bin ja irgendwo auch Aktivistin, weil ich mich aktiv einsetze“, sagt Marita Dresen. Sie wünscht sich, dass auch Lützerath bleiben kann. Dafür will sie mitkämpfen.
Und für Kuckum hat David Dresen auch schon Pläne. Ein Kulturzentrum könnte in der inzwischen entweihten Kirche entstehen und vielleicht gibt es mal Sozialprojekte wie betreutes Wohnen in den alten Höfen, erzählt er und grüßt freundlich ein junges Pärchen, das am Haus vorbeijoggt. Es sind die ukrainischen Nachbarn, einige Geflüchtete sind in den leerstehenden Häusern untergekommen. Es passiert viel Neues im alten Kuckum. PETER SIEBEN