Dnipro – Auf dem Küchentisch liegen noch die Äpfel in der Obstschale. Und neben der Spüle stehen die Teller und warten darauf, abgespült zu werden. Doch sonst ist nichts mehr, wie es war in der kleinen Wohnung in Dnipro, nachdem das mehrstöckige Wohngebäude am Samstag offenbar von einer russischen Rakete getroffen wurde. Das Foto der Küche, deren Außenwand von dem Raketeneinschlag weggerissen wurde, geht seitdem durch die sozialen Medien – und wird zum Symbol für die Grausamkeit dieses Krieges.
In der Wohnung lebte Medienberichten zufolge der ukrainische Boxtrainer Mykhailo Korenovsky mit seiner Frau und zwei Kindern. Im Netz kursiert ein Video, das die Familie noch wenige Tage vor dem Raketeneinschlag bei der Geburtstagsfeier einer der Töchter in eben jener Küche zeigt. Korenovsky, Cheftrainer des Boxteams der Region Dnipropetrovsk, starb bei dem Luftangriff – zusammen mit mindestens 44 weiteren Bewohnern des Komplexes. Etwa 80 Personen wurden verletzt, 20 Menschen galten darüber hinaus gestern noch als vermisst. 200 Wohnungen wurden zerstört. Korenovskys Frau und die beiden Kinder entkamen dem tödlichen Angriff, weil sie kurz zuvor für einen Spaziergang nach draußen gingen, wie die „New York Times“ berichtet.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj prangerte den Angriff auf den Wohnkomplex als „Kriegsverbrechen“ an. „Jede Person, die für dieses Kriegsverbrechen verantwortlich ist, wird identifiziert und vor Gericht gestellt“, sagte der Staatschef in der Nacht zum Dienstag in seiner täglichen Videoansprache. Nach UN-Angaben war es einer der Angriffe mit den meisten Toten in der Ukraine seit Beginn der russischen Invasion. Kiew macht Russland für den Angriff verantwortlich. Moskau weist die Vorwürfe zurück. Kremlsprecher Dmitri Peskow behauptete am Montag, dass die „Tragödie“ durch die ukrainische Luftabwehr verursacht worden sei – und verwies dabei auch auf eine Aussage des ukrainischen Präsidentenberaters Olexij Arestowytsch. Der hatte in einer Livesendung im Internet ebenfalls die ukrainische Flugabwehr als mögliche Ursache für den Raketeneinschlag genannt. Nach einer Welle öffentlicher Empörung in der Ukraine kündigte er als externer Berater und entschuldigte sich bei den Hinterbliebenen für seine Äußerung.
Der Angriff auf Dnipro war der folgenreichste von mehreren Angriffen am Samstag. Die heftigste russische Angriffswelle seit dem Jahreswechsel richtete sich erneut auch gegen die ukrainische Energieinfrastruktur. Nach Angaben britischer Geheimdienste hat die russische Armee aber Schwierigkeiten, ihre Angriffe zielgenau auszuführen. Beispiele wie der Raketeneinschlag in Dnipro zeigten, dass Russland Schwächen bei der Angriffsfähigkeit mit Langstreckenwaffen habe, hieß es am Dienstag im täglichen Kurzbericht des Verteidigungsministeriums. Ähnliche Waffen wie zuletzt in Dnipro hätten beispielsweise auch beim Angriff auf ein ukrainisches Einkaufszentrum im vergangenen Juni zu hohen Opferzahlen geführt. dg/dpa/afp