Miesbach – Olaf von Löwis ist gerade auf dem Weg ins Landratsamt, als er erfährt, dass in 45 Minuten ein Bus mit 50 Flüchtlingen bei der Tegernseer Turnhalle eintreffen wird. „Wir müssen umdrehen“, sagt er zu seinem Fahrer. Eigentlich hätte der Miesbacher Landrat jetzt einen wichtigen Termin. Doch wichtiger ist es ihm, vor Ort zu sein, wenn die Asylbewerber eintreffen. Das schafft er nicht bei jedem Bus – dafür sind es zu viele. Auf der Fahrt schaltet sich der CSU-Landrat noch kurz per Video zu seiner Besprechung dazu.
Ein paar Minuten später steht der 69-Jährige vor der Turnhalle und kämpft gegen die Tränen an. Es ist nicht das erste Mal, dass er dabei ist, wenn Geflüchtete ankommen. Aber er war nicht darauf vorbereitet, dass an diesem Donnerstag so viele kleine Kinder aus dem Reisebus steigen würden. Von Löwis hat kleine Enkelkinder – die Szenen, die er beobachtet, gehen ihm nahe. Ein kleiner Junge schläft völlig erschöpft auf dem Arm seiner Mutter. Ein anderer Junge lächelt, als er den Schnee sieht und greift sich eine Hand voll davon, während seine Eltern ihr Gepäck aus dem Bus tragen. Alles was die Familie besitzt, passt in zwei Plastiktüten. Ein kleines Mädchen steht neben dem Bus und klammert sich an seine Mutter.
„Mein Gott“, sagt von Löwis leise, während die Sicherheitsleute den Menschen beim Ausladen helfen. Er steht etwas abseits – und fragt sich im Stillen, was die Menschen hinter sich haben, die die nächsten Monate in der Turnhalle verbringen werden. Und was noch vor ihnen liegt.
Fast täglich kämpft der Landrat beim Thema Flüchtlingsunterbringung mit Zahlen. Wie viele Menschen werden dem Landkreis in dieser Woche zugewiesen? Wie viele Betten sind in den drei Turnhallen noch frei? Wie viele Plätze in Ferienwohnungen können noch belegt werden? Und für wie viele Wochen? Wie viele Container kann der Landkreis aufstellen? Doch in diesem Moment geht es nicht mehr um Zahlen, es geht um Menschen in Not.
Nicht nur im Kreis Miesbach spielen sich Szenen wie diese fast wöchentlich ab. Überall sind aus Turnhallen wieder Sammelunterkünfte geworden. Die Zahlen der Asylanträge sind höher, als sie 2015 und 2016 waren. Damals lebten im Kreis Miesbach maximal 750 Geflüchtete. Aktuell sind dort 1133 Ukrainer und 729 Flüchtlinge aus anderen Ländern untergebracht. Seit Oktober hat die Regierung dem Landkreis 229 Asylbewerber zugwiesen. In Oberbayern kamen Anfang Januar pro Tag im Schnitt 69 Flüchtlinge an – Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine nicht mitgerechnet. Hauptherkunftsländer sind Syrien, Afghanistan und die Türkei. In Miesbach kommt fast jede Woche ein neuer Bus mit rund 50 Menschen an. Einmal kamen sogar zwei Busse an einem Tag. Wie lange das noch so weitergeht, weiß niemand.
Meist erfährt das Landratsamt zwei oder drei Tage vorher von der Zuweisung. Die Regierung von Oberbayern schickt eine Liste mit den Namen und den Nationalitäten. „Manchmal werden diese Listen aber kurzfristig geändert oder stimmen nicht“, erklärt Michaela Waizmann, Leiterin der Ausländerbehörde im Landratsamt. Heute stimmen sie. Im Bus sitzen Menschen aus Syrien, Afghanistan, der Türkei und aus Nigeria. Sie werden getrennt von ukrainischen Flüchtlingen untergebracht.
Waizmann und ihre Kollegen sind immer vor Ort, wenn Geflüchtete eintreffen. Die Menschen werden erst auf Corona getestet, dann müssen die Landratsamtmitarbeiter die Papiere kontrollieren. Sie fragen nach gesundheitlichen Probleme und erklären ihnen, dass sie ein Konto eröffnen müssen, um finanzielle Hilfen zu bekommen. Sie verteilen Zettel, auf denen der Weg ins Landratsamt markiert ist – denn dort geht die Arbeit in den nächsten Tagen weiter. Und viele andere Arbeiten bleiben liegen. Seit Monaten. Die Belastung ist hoch – auch deshalb ist von Löwis heute hier. Er dankt seinen Mitarbeitern, hört zu, sagt ihnen, dass er sieht, was sie leisten.
Als Landrat steht er zwischen allen Stühlen. Die kritischen Stimmen in der Bevölkerung werden lauter. Drei Schulturnhallen sind nun belegt, von Löwis rechnet nicht damit, dass dort in diesem Schuljahr wieder Sport möglich sein wird. Die Schüler müssen mit Bussen in benachbarte Orte fahren. Viele Helferkreise sind geschrumpft, die Ehrenamtlichen sind ausgebrannt. „Uns fehlt die Perspektive“, sagt er. „Wir sehen kein Ende.“ Gleichzeitig weiß er, dass es seinen Kollegen in anderen Regionen nicht besser geht. Die Flüchtlinge werden nach dem Königsteiner Schlüssel verteilt, der nach der Bevölkerungszahl berechnet wird. Obwohl Miesbach jede Möglichkeit für die Unterbringung nutzt, hat der Kreis seine Quote nur zu knapp 90 Prozent erfüllt. „Wir brauchen eine Verschnaufpause, um neue Unterkünfte zu organisieren“, sagt von Löwis. Er hat einen Brief an den Regierungspräsidenten Konrad Schober geschickt. Ein Hilferuf. Er schildert darin die Situation und bittet um eine Zuweisungspause. „Wenn noch zwei Busse kommen, ist die Tegernseer Turnhalle voll“, sagt er. Dann wisse er nicht mehr, wo er Menschen unterbringen soll. Er will es schaffen, aber er weiß nicht wie. Seit Monaten kämpft er um die Genehmigung für zwei Container-Standorte. Vor Kurzem hat er den Brief endlich bekommen. Im Frühjahr können die ersten Menschen in die Container umziehen. Doch das wird nicht reichen, um die drei Turnhallen zu leeren. Nicht mal dann, wenn kein weiterer Bus kommen würde.
Es werden aber weitere kommen. Das hat die Regierung angekündigt. Von Löwis hatte diese Antwort auf seinen Brief erwartet. „Trotzdem ist es meine Pflicht, auf die Notsituation aufmerksam zu machen.“ Er hofft, dass sein Hilferuf und die der anderen Landkreise bis nach Berlin vordringen.
Bis alle Menschen, die an diesem Tag am Tegernsee angekommen, registriert sind, ist früher Nachmittag. Während die Sicherheitskräfte in der Turnhalle Wasser verteilen und den Kindern Kekse und ein Lächeln schenken, fährt draußen ein neuer Bus vor. Er holt die Schüler aus Tegernsee ab und bringt sie zum Sportunterricht nach Gmund. Der Landrat ist längst bei seinem nächsten Termin. Sein Terminkalender ist voll an diesem Tag, viel Zeit zum Nachdenken bleibt nicht. Die Szenen, die er heute gesehen hat, werden ihn abends einholen, wenn er im Bett liegt. Ruhig schlafen kann er schon lange nicht mehr.