Der Tag, an dem die Demokratie starb

von Redaktion

INTERVIEW Historiker Thomas Weber über die Lehren aus Hitlers Machtübernahme 1933 für die Gegenwart

München – Heute vor 90 Jahren übernahmen die Nationalsozialisten die Macht, Adolf Hitler wurde Reichskanzler. Thomas Weber, 48, ist Professor für Geschichte und internationale Politik an der Universität Aberdeen. Er hat einen neuen Sammelband herausgegeben, in dem Forscher das Jahr 1933 analysieren und Schlussfolgerungen zu den Angriffen auf die Demokratien heute ziehen. Im Interview erklärt er, wie die Nazis damals die Schwäche der konservativen Parteien ausnutzten – und wie Demokratien heute schleichend erodieren.

Herr Weber, Sie bezeichnen 1933 in Ihrem Buch als „das Jahr, in dem die Gegenwart geboren wurde“. Wie ist das zu verstehen?

Geschichte reicht immer in die Gegenwart hinein. Ich habe die Formulierung gewählt, weil 1933 Fakten geschaffen werden, die uns bis heute prägen. Sowohl in der Selbstwahrnehmung als auch in der Wahrnehmung politischer Krisen. Etwa wenn wir über den Sturm auf das Kapitol in Washington sprechen, wo in den USA sofort Parallelen zum Reichstagsbrand gezogen wurden. Bevor Russland in der Ukraine einmarschierte, wurde viel über Appeasement – Einlenken – geredet. Wladimir Putin bemüht in der Kriegsrhetorik innenpolitisch den Kampf gegen den Faschismus. In der Ukraine wiederum wird an den Holodomor erinnert, eine von Moskau 1933 gezielt herbeigeführte Hungersnot, bei der Millionen Ukrainer starben. Auch das wirkt bis heute nach. Solche Verweise machen 1933 zum Ausgangspunkt einer Welt, die uns bis heute dominiert. Gerade auch mit Blick auf Angst vor neuen Zusammenbrüchen.

In der Geschichtswissenschaft herrschte lange die These vor, Hitlers Aufstieg sei die eher zufällige Folge ungünstiger Entwicklungen. Neuere Forschungen urteilen da anders…

Die Weltwirtschaftskrise hat nach 1929 ja nicht nur Deutschland getroffen. Oder anders formuliert: Sie ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für das Scheitern der Demokratie in Weimar. Das zeigt ein Blick in die USA oder in die Niederlande, wo die Entwicklung nach 1929 ganz anders verlaufen ist. Die Krisen in verschiedenen Ländern waren ähnlich, aber die Krisenwahrnehmung war eine andere.

Woran liegt das?

Das hat etwas mit politischen Traditionen zu tun, in Deutschland kommt die spezifische Erfahrung der Niederlage im Ersten Weltkrieg hinzu. Aber spannend ist die Frage, warum manche Länder bestimmte Krisen besser meistern? Entscheidend ist die Resilienz politischer Systeme. In den Niederlanden zum Beispiel haben gerade die konservativen Parteien die Demokratie nach der Weltwirtschaftskrise stabilisiert.

Wie bewerten Sie den Irrglauben der konservativen Eliten in Deutschland, die Nationalsozialisten einbinden zu können?

Die Konservativen – zumindest in Norddeutschland – sind vom Fehlschluss ausgegangen, dass die deutschen Nationalsozialisten so agieren wie die italienischen Faschisten. Das heißt, dass die Nationalsozialisten bereit sind, ein Bündnis mit den alten Eliten einzugehen und die alten Kräfte ihre Position behalten. Das war die große Illusion der norddeutschen Konservativen: zu glauben, Hitler sei die deutsche Variante von Mussolini. Nach der Machtübernahme 1933 wurden sie dann Schritt um Schritt zur Seite gedrängt – auch in der Ministerialbürokratie – und durch Nationalsozialisten ersetzt.

Und im bayerischen Süden?

Es gibt einen starken Kontrast. In Bayern haben die Konservativen von Bayerischer Volkspartei (BVP) und bayerischen Monarchisten in den Anfangsjahren der Weimarer Republik viel enger mit den Nationalsozialisten kooperiert als in Norddeutschland. Aber nach dem Hitler-Putsch vom 9. November 1923 setzte ein Umdenken ein. Die bayerischen Konservativen haben die Nationalsozialisten sehr viel mehr auf Distanz gehalten und waren nicht mehr bereit, Bündnisse einzugehen. Diese Abgrenzung zahlte sich für die BVP auch in Wahlen aus. Ganz im Gegensatz zur DNVP, die für ihren Kooperationskurs nach 1928 im Reich an Stimmen einbüßte. Insofern ist es auch schlüssig, dass Bayern nach 1933 als letztes Land gleichgeschaltet wurde.

In Deutschland wurde zuletzt vor allem das Verhältnis von Kronprinz Wilhelm von Preußen zu Hitler diskutiert.

Für mich ist vollkommen klar, dass Wilhelm von Preußen versucht zu kollaborieren. Dass er versucht, den Nationalsozialisten zur Macht zu verhelfen. Und dass er das über Gebühr lange tut. Das Problem ist für mich die Frage der Wirkung. Hat er der Machtergreifung „erheblichen Vorschub“ geleistet, wie es in der juristischen Debatte um einen möglichen Ausgleich heißt? Der Effekt der Unterstützung des Kronprinzen war in meinen Augen beschränkt, sowohl vor als auch nach 1933. Diese Einschätzung macht mich aber noch nicht zum Hohenzollern-Unterstützer, wie viele meinen. Ich bin Historiker und bewerte die Fakten.

Ihr Buch schaut nicht nur auf 1933, sondern auch auf sogenannte illiberale Demokratien heute. Was verstehen Sie darunter?

Der Begriff kam in den 90er-Jahren in den Politikwissenschaften auf. Er bezeichnet ein Abgleiten von politischen Systemen wie in Ungarn oder der Türkei, in denen Institutionen wie Parlament, Verfassungsgericht formal noch bestehen, aber in ihrer Funktion ausgehebelt sind. Dabei geht es mir nicht darum, diese Länder mit dem Deutschland der 30er-Jahre gleichzusetzen. Mein Ziel ist zweierlei: Ich halte zum einen den Begriff der illiberalen Demokratie für geeignet, politische Systeme der 1920er- und 30er-Jahre in Europa zu beschreiben. Zweitens geht es mir darum, die Herausforderungen der Gegenwart und die gemeinsamen Grundstrukturen der Radikalisierung damals und heute zu verstehen. Die Ereignisse von 1933 zeigen die Mechanismen, wie eine Demokratie zusammenbrechen kann.

Was hat das Jahr 1933 mit aktuellen Krisenphänomene der Demokratie zu tun?

Der Übergang von einer funktionierenden Demokratie zu einer illiberalen Demokratie ist ein gradueller Prozess. Das Ergebnis wird oft erst bemerkt, wenn es für das demokratische System schon zu spät ist. Der Sturm auf das Kapitol in Washington, die Ereignisse von Brasilia oder die Reichsbürger um Prinz Heinrich XIII. – das alles ist spektakulär und schlimm genug. Aber viel gefährlicher ist das graduelle Abgleiten in die illiberale Demokratie. Der Niedergang der Demokratie ist ein schleichender Erosionsprozess.

Interview: Peter Riesbeck

Das Buch

„Als die Demokratie starb“, herausgegeben von Thomas Weber, Herder Verlag, 22 Euro,

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